Anna Kim und die Sprache der Bilder: „Zwischen Fakt und Fiktion“
Hinausgelesen: Anna Kims schenkt in ihren „Stefan Zweig Poetikvorlesungen“ Einblick in ihr Recherchieren und Schreiben.
Hinausgelesen: Anna Kims schenkt in ihren „Stefan Zweig Poetikvorlesungen“ Einblick in ihr Recherchieren und Schreiben.
„Meine Art zu recherchieren ist mehr ein Fahnden“, schreibt Anna Kim in ihren „Stefan Zweig Poetikvorlesungen“, die sie für die Buchform „Zwischen Fakt und Fiktion“ (Sonderzahl 2024) überarbeitet hat: „Ich folge einer Spur. Diese führt mich zu einer anderen Spur, und diese wieder zu einer oder mehreren anderen Spuren. Es kommt immer der Moment, an dem sich eine Spur aufteilt und ich entscheiden muss, ob ich abbiege oder auf derselben Spur bleibe. Oder, wie im Fall von Anatomie einer Nacht, jede Spur versickert, endet im Nichts.“
2004 hat Anna Kim mit ihrem im Droschl Verlag erschienenen Debüt „Die Bilderspur“ auf sich aufmerksam gemacht. Die Spur des Bildes war in dieser erstaunlichen Prosa unübersehbar, nicht nur im Titel. Dass sie sich nun in ihren Poetikvorlesungen auch dem Bild zuwendet, verwundert nicht: „Manchmal frage ich mich, ob meine wahre Muttersprache nicht die Sprache der Bilder ist.“ Die 1977 in Daejeon, Südkorea, geborene Autorin kam als Zweijährige mit ihren Eltern nach Deutschland. Als sie zwölf Jahre alt war, starb ihr Vater, ein Künstler. Wie sehr dieser sie und ihr Schaffen geprägt hat, das lässt sich nach der Lektüre „Zwischen Fakt und Fiktion“ einmal mehr erahnen.
„Wenn er zeichnete, saß ich oft neben ihm und beobachtete, wie auf dem Nichts eines weißen Blattes Leben entstand, hin und wieder durfte ich mitmachen, aber immer schwiegen wir, wir sprachen nicht, es war nicht nötig“, hält Anna Kim fest und zitiert dazu auch aus ihrem ersten Buch, „Die Bilderspur“. „Stricken“ nennt sie diesen Abschnitt ihrer Vorlesungen, es sei für sie das passende Bild für das Schreiben. „Es geht mir um die Unbarmherzigkeit des Fehlers. Es gibt kein Überspringen, kein Sich-darüber-hinweg-Schummeln – wenn man einen Fehler gemacht hat, muss man ihn wieder auftrennen, ihn beheben und kann erst danach weitermachen. Hier kommt der zweite spannende Aspekt des Strickens ins Spiel: Stricken ist streng chronologisch. Eine Reihe folgt der nächsten.“
Bilder ermöglichen die Gleichzeitigkeit der Darstellung. „Ein Bild, nehmen wir beispielsweise das Weltgerichtstriptychon von Hieronymus Bosch, erzählt mehrere Geschichten gleichzeitig.“ Schreibende hingegen, bedauert Kim, müssen immer der Reihe nach vorgehen. Selbst wenn sie Gleichzeitiges erzählen, können sie es doch nur, indem sie ein Wort nach dem anderen, einen Satz nach dem anderen setzen.
Kunst und Literatur seien zwar völlig frei, das Mögliche und das Unmögliche auszuloten, aber Anna Kim versteht sie dennoch auch zielgerichtet. Sie erwartet, dass Kunst „mit unserer gewohnten Sichtweise bricht, sie auseinander- oder aufbricht, neue Perspektiven aufzeigt, Gewohntes aus anderen Blickwinkeln darstellt. Kunst ist auch die Verbindung von Reflexion mit Emotion, die Möglichkeit, subjektiv zu sein, ohne die Sphäre des Objektiven hinter uns zu lassen; Kunst ist [...] nicht nur da, damit es Kunst gibt – obwohl dies natürlich auch möglich ist und sein sollte –, sondern sie ist der Beginn eines Gesprächs –“.
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