Muezin und Glockenschlag - © Bild: iStock/Christine_Kohler (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger

Ruf zum Gebet: Den richtigen Ton anschlagen

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Kirchenglocken und Muezzine sind zwei Erinnerungsfunktionen Gottes, die den öffentlichen Raum mit spirituellen Botschaften beschallen. Gleichermaßen stoßen sie auf offene Ohren, Ignoranz – oder Ablehnung.

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Kirchenglocken und Muezzine sind zwei Erinnerungsfunktionen Gottes, die den öffentlichen Raum mit spirituellen Botschaften beschallen. Gleichermaßen stoßen sie auf offene Ohren, Ignoranz – oder Ablehnung.

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Zur Todesstunde des Herrn kommen die Glocken auf die Welt. Seit alters her wird der Glockenguss auf Freitage um drei Uhr am Nachmittag gelegt. Eine stimmige Tradition: Zur Uhrzeit, als am Kreuz Gottes Stimme auf Erden starb, wird den Glockenstimmen Geist eingehaucht, „um uns zu mahnen und zu rufen“, wie Glockengießer Christof Grassmayr Wesen und Berufung der Glocken zusammenfasst. Der Seniorchef der Innsbrucker Glockengießerei führt als Zeremonienmeister durch die freitäglichen Gussliturgien, in denen weltliches und geistliches Handwerk gleichermaßen anpacken, Frommes gebetet und gesungen, Feuriges gegossen und gerührt wird, damit sich am Ende eines Gusstags Friedrich Schillers „Lied von der Glocke“ bestätigt: „Soll das Werk den Meister loben, / Doch der Segen kommt von oben“.

1799, als Schiller die „Glocke“ schrieb, gossen Grassmayrs Vorfahren bereits 200 Jahre lang ihre Glocken in Innsbruck, einem idealen Standort, „Metallgießer werden sich immer dort niederlassen, wo genügend Lehm und Erz vorhanden sind“. Laut den Gussbüchern des Familienbetriebs wurden in der 425-jährigen Firmengeschichte mehr als 6000 Glocken gegossen. Insgesamt läuten in Österreichs katholischen Diözesen laut aktueller Zählung 20.696 Kirchenglocken. Rechnet man die Glocken der evangelischen Kirchen dazu, aber auch andere christliche Konfessionen, hinduistische und buddhistische Gemeinschaften bestellen bei Grassmayr Glocken, und dividiert die Zahl durch die knapp 2100 Gemeinden, lässt sich Österreich nach wie vor als „Land der Glocken“ beschreiben. Zur Freude vieler, denen es beim Glockenklang so geht wie Christof Grassmayr, der nicht nur aus beruflicher Passion sagt: „Wo immer ich bin, freue ich mich, wenn ich Glocken höre und halte kurz inne.“

Wasserfall aus 50 Teiltönen

Aber auch Ärger über Geläut und wenn Kirchenglocken die Uhrzeit schlagen, bis hin zu Anzeigen über Lärmbelästigung und Gerichtsprozesse gibt es. Und das nicht erst in jüngerer Zeit, wie ein Blick in den FURCHE-Navigator zeigt. Bereits in den 1950er-Jahren finden sich Artikel, „wie das Glockengeläut‘ erzürnt die Leut“. Der damals ironisch gemeinte Schluss lautete: „Der Herr sei, wie schon beim Propheten Elias berichtet, eben bloß im sanften Säuseln.“ Der Grassmayr-Firmenphilosophie folgend, ist eine Glocke auch nicht lediglich ein Klang- oder Schallkörper, sondern ein Musikinstrument. „Die Stradivari unter den Glocken zu bauen“, ist das handwerklich- künstlerische Ziel der beiden Söhne von Christof Grassmayr, die heute die Glockengießerei leiten. Dafür wird in Kooperation mit Universitäten und unter Zuhilfenahme modernster Mess- und Simulationstechniken experimentiert, um das Ton-Spektrum einer Glocke zu analysieren, das einem „Wasserfall“ aus 50 Teiltönen gleicht. Bis auf das Hundertstel eines Halbtons genau können die Innsbrucker Glockengießer die Klangfarben ihrer Glocken berechnen und ihre Formen den akustischen Anforderungen anpassen.

Seniorchef Grassmayr bricht die hochkomplexe Berechnungsarbeit auf ein simples Bild herunter: „Wir haben als Kindern der Küche die Suppenhefen aus Blech ausgeliehen; je größer der Hafen, desto tiefer der Ton. Unsere Kunst ist, dass wir der Glocke einen ganz bestimmten Ton geben.“ Der sich im Zusammenspiel mehrerer Glocken verschiedener Größen und unterschiedlicher Schwungdauer ergänzen muss, damit sich ein Kaleidoskop variierender Tonfolgen und ein besonderes Klangerlebnis einstellt. Insofern gilt auch für das Glockenmiteinander der Vergleich des Apostel Paulus im Römerbrief von einem Leib und den vielen Gliedern: nicht alle haben dieselben Aufgaben und Talente, aber alle sollen ihren Teil zu einem christstimmigen Orchester beitragen. Wobei das nicht zu allen Zeiten gleich klingen musste, wie die verschiedenen Glockenklang-Geschmäcker mit mehr oder weniger hohem Geräuschanteil im Laufe der 1500-jährigen Geschichte der Glocke in Europa zeigt.

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