Ternitzer Terrorverdächtiger  - © Foto: APA / Roland Schlager

Radikalisierung: Zwei oder drei Monate reichen oft aus

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Über Social-Media-Kanäle radikalisieren sich Jugendliche in immer kürzerer Zeit. Das religiöse Wissen dahinter ist marginal. Was können Moscheen und Schulen dagegen tun? Ein Gastkommentar.

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Über Social-Media-Kanäle radikalisieren sich Jugendliche in immer kürzerer Zeit. Das religiöse Wissen dahinter ist marginal. Was können Moscheen und Schulen dagegen tun? Ein Gastkommentar.

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Die Festnahmen rund um die geplanten terroristischen Anschläge auf drei Taylor-Swift-Konzerte im Wiener Ernst-Happel-Stadion zeigen drei gefährliche Trends auf: Zum einen werden die sich Radikalisierten immer jünger. Die festgenommenen Tatverdächtigen von Wien sind 17 und 19 Jahre jung, auch ein 18-Jähriger scheint involviert zu sein. Laut dem international bekannten Terrorismusexperten Peter Neumann vom Londoner King’s College sind mittlerweile zwei Drittel der in den letzten Monaten verhafteten Terrorverdächtigen in Europa Teenager.

Das zweite Phänomen ist, dass sich die Mehrheit dieser Jugendlichen hauptsächlich über Social-Media-Kanäle radikalisiert. Und dies in enorm hoher Geschwindigkeit: Zwei bis drei Monate reichen oft – und ein Jugendlicher ist bereit, einen Selbstmordanschlag zu verüben.

Wie die Verdächtigen von Wien sind immer mehr Terroristen nicht in internationale Terrornetzwerke eingebunden. Sie werden zwar durch Propaganda des IS beziehungsweise von Onlinepredigern radikalisiert, handeln aber in Eigenregie. Dies erschwert ihre rechtzeitige Erfassung und stellt die dritte Herausforderung dar. Nun stellt sich die Frage: Was tun gegen die sich immer mehr verjüngende, digitalisierte und individualisierte Form der Radikalisierung?

Kaum Wissen über den Koran

Bevor man sich dieser zentralen Frage zuwendet, gilt es, nachzuvollziehen, mit welchen Inhalten sich die Jugendlichen radikalisieren. Im Zuge eines Aussteigerprojekts begleite ich islamistische, jugendliche Radikalisierte, die im Gefängnis ihre Haftstrafen absitzen. Dies ermöglicht mir intensive Gespräche mit diesen Jugendlichen. Obwohl alle die Religion als Motiv nennen, kommt bei den meisten Jugendlichen, die ich bitte, mir etwas aus dem Koran vorzulesen, die Antwort: „Ich kann den Koran nicht lesen.“ Wenn wir dann über religiöse Positionen im Zusammenhang mit Terror diskutieren, sind diese Jugendlichen in der Regel nicht in der Lage, ihr Handeln religiös-argumentativ zu erklären. Stattdessen verweisen sie immer wieder auf Onlineprediger. Deren Positionen werden unreflektiert angenommen und zu nicht verhandelbaren wahren Aussagen glorifiziert.

Schnell erahnt man, dass kein intellektuelles Motiv hinter der Radikalisierung steht, sondern vielmehr ein emotionales. Was die Jugendlichen bewegt, sind weniger religiöse Motive, sondern das Empfinden, in einer ungerechten Welt zu leben, in der man sich dazu berufen fühlt, für Gerechtigkeit zu sorgen. Konkret heißt es meistens, die westliche Welt sei für diese Ungerechtigkeiten verantwortlich. Leidtragende seien hauptsächlich die Muslime inner- und außerhalb Europas – und die Terroranschläge seien eine Art Rache am Westen: „So wie Muslime leiden, sollen auch die Menschen im Westen leiden und in Angst und Unruhe versetzt werden.“ Das ist die Großerzählung, die alle Islamisten teilen.

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