Grenze Belarus-Ukraine - Belarussen stehen im Baltikum als „fünfte Kolonne“ Lukaschenkos und Putins unter Verdacht. - © Getty Images /AFP / Natalia Kolesnikova

Olga Karatch: „Die Angst, dass jeder ein Agent ist“

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Die belarussische Friedensaktivistin Olga Karatch vergleicht die gegenwärtige Situation im Baltikum mit dem gespannten Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschland im Kalten Krieg.

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Die belarussische Friedensaktivistin Olga Karatch vergleicht die gegenwärtige Situation im Baltikum mit dem gespannten Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschland im Kalten Krieg.

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Die Abwehrhaltung der EU-Staaten gegen Kriegsdienstverweigerer aus Belarus und Russland, sagt Olga Karatch, nützt der russischen Propaganda, demoralisiert die Menschen dort und schürt das gegenseitige Misstrauen.

DIE FURCHE: Frau Karatch, in Österreich ist Spionage für Russland gerade ein riesiges Thema. Voriges Jahr wurde Ihnen in Litauen eine Zusammenarbeit mit russischen Geheimdiensten unterstellt. Den Vorwürfen fehlte jede Basis, Ihr Aufenthaltsstatus ist wieder gesichert. Welche Schlüsse ziehen Sie aus dem Fall?

Olga Karatch: Ich stand vor der Situation, dass ich in Belarus als Terroristin deklariert bin, und auf Terrorismus steht in Weißrussland die Todesstrafe. Gleichzeitig wurde ich in Litauen als Bedrohung für die nationale Sicherheit bezeichnet. Natürlich ist das nicht angenehm, wenn man da wie dort als Feind hingestellt wird, und du weißt, dass du nichts Schlimmes tust. Aber leider greift in Litauen immer mehr eine Art nationale Panik vor Flüchtlingen aus Weißrussland, Russland und der Ukraine um sich, die von Medien noch weiter geschürt wird. Das erschwert unsere Arbeit enorm und spielt gleichzeitig den Regimen in Belarus und Russland in die Hände.

DIE FURCHE: Inwiefern?

Karatch: Als Putin die Ukraine im Februar 2022 angreifen ließ, stellten wir uns die Frage: Was können wir dagegen tun? Unsere Antwort als weißrussische Frauen lautet: Wir können nur eines tun – versuchen, jede Beteiligung der weißrussischen Armee an diesem Krieg zu verhindern. Seither unterstützen wir belarussische Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen und Deserteure bei ihrer Flucht aus der Armee und in die EU. Wenn Litauen diese Kriegsdienstverweigerer als Spione brandmarkt und nach Belarus abschiebt, ist das ein gefundenes Fressen für die belarussische Propaganda. Gleichzeitig wird auf litauischer Seite der Hass geschürt, mit abstrusen Verdächtigungen, die bis ins Mittelalter zurückreichen.

DIE FURCHE: Putin legitimiert seine Invasion in der Ukraine unter anderem auch mit Geschichtsklitterung.

Karatch: Genau, es ist die selbe Methode. Auch hier wird versucht, die öffentliche Meinung in Litauen zu manipulieren, indem man bis zum Königreich Litauen im 13. Jahrhundert zurückgeht und angebliche belarussische Bestrebungen heraufbeschwört, dieses wieder errichten zu wollen. Auf diese Weise wird Putins Politik übernommen. Denn meiner Meinung nach will Putin nicht nur den Krieg in der Ukraine gewinnen. Was er will, ist der Sieg über unseren Lebensstil und unsere Werte, insbesondere aber in Osteuropa, aber letztlich in ganz Europa. Da kommt ihm das wachsende Misstrauen gegen alles Russische in Europa oder die schwierige Situation der russischen Minderheit in den Ländern des Baltikum sehr recht. Damit liefern wir der russischen Propaganda viele Argumente – und das demoralisiert die Menschen in Russland und in Belarus, wenn sie sehen, dass sie alleine stehen, dass es keinen Sinn hat, zu kämpfen. Das ist schlimm, denn sie brauchen wirklich einen Traum, für den es zu kämpfen lohnt. Für mich ist die Situation zwischen Litauen und Weißrussland derzeit sehr ähnlich dem Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschland in der Zeit des Kalten Kriegs.

DIE FURCHE: Ein interessanter, für mich völlig neuer Vergleich. Wie kommen Sie darauf?

Karatch: Weil wir eine sehr ähnliche Kultur haben, eine lange gemeinsame Geschichte und es seit alters her viel Austausch, wirtschaftliche und familiäre Beziehungen und Berührungspunkte gibt. Gleichzeitig ist die belarussische Gesellschaft, so wie die der DDR, stark vom weißrussischen KGB bis hinein in die Familien unterwandert. Eine Kollegin von mir musste mit ihren beiden Kindern nach Litauen fliehen, nachdem ihre Mutter sie denunziert hatte. Eine andere Kollegin wurde in Weißrussland acht Monate eingesperrt, weil sie anwaltliche Unterstützung und Lebensmittelpakete für politische Gefangene organisierte. Wer, glauben Sie, hat die Frau angezeigt?

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