Russland nach Europa: Eine Frage der Psychologie

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Der Westen spucke Russland ins Gesicht. Diese Meinung hat ein großer Teil der russischen Polit-Elite, meint der renommierte Moskauer Politologe Andrej Piontkowskij. Das sei aber allein ein Problem für den Psychiater.

Die Furche: Langfristig gesehen - halten Sie einen Beitritt Russlands zur EU für denkbar?

Andrej Piontkowskij: Derzeit ist er nicht realistisch, aber die Perspektive muss unbedingt wie ein Horizont aufgestellt werden, weil sie einen Plan für die russischen Strukturreformen schafft. Das Problem eines Beitritts ist zu 80 Prozent ein russisches. Für Russland wäre es zweckmäßig, wenige Hauptpunkte (Rechtsstaat, Menschenrechte, Pressefreiheit) zu bestimmen, bei denen Gesetzgebung und Praxis sukzessive an die europäischen Parameter angenähert werden.

Die Furche: Hat die europäische Perspektive schon Wirkung gezeigt?

Piontkowskij: Es ist sehr beunruhigend, dass sich unter Putin viele der genannten Hauptpunkte von den europäischen Werten wegbewegen. Die beliebtesten Worte in der Putin-Administration sind die von der "gelenkten Demokratie", der "administrativen Vertikale", der "Diktatur des Rechts". Ganz zu schweigen vom Krieg in Tschetschenien, wo die EU einige Zeit im Unterschied zur USA die Frage der Menschenrechtsverletzungen und des negativen Einflusses auf die russische Gesellschaft gestellt hat. Beim Petersburger Gipfel im Mai hat aber auch die EU kapituliert und Putins Politik als angebliche Schritte zur politischen Lösung des Tschetschenienkonflikts unterstützt.

Die Furche: Putin hatte anklingen lassen, dass Europa für einen geopolitischen Bedeutungsgewinn gute Beziehungen zu Russland suchen solle. Was wollte er damit sagen?

Piontkowskij: Das ist so eine populäre dumme Idee, die während der Irakkrise gescheitert ist. Das von Außenminister Igor Iwanow erfundene Dreieck Frankreich-Deutschland-Russland ist der gleiche Schwachsinn wie das strategische Dreieck Indien-China-Russland seines Vorgängers Jewgenij Primakow. Sowohl für Russland als auch für die EU sind die USA der primäre Partner. Besonders für Russland ist die Opposition zu Amerika dumm: Denn während Europa seinen "Familienstreit" mit Amerika leichter schlichten kann, hat Russland nun eine Verschlechterung der Beziehungen mit den USA, ohne irgend- eine Verbesserung der Beziehungen zu Europa erreicht zu haben. Russland kann seinen Eintritt nach Europa nicht auf dem Weg der Konfrontation mit Amerika suchen.

Die Furche: Wie löst man dann das Problem des doppelten Westens?

Piontkowskij: Unser Verhältnis zu Amerika und zu Europa muss komplementär sein. Unser ökonomischer Haupt- partner ist Europa, auf dem Gebiet der Sicherheit aber ist es konkurrenzlos die USA. Alle Sicherheitsprobleme im 21. Jahrhundert sind leider entlang der Grenze Russlands zu China, Zentralasien, Naher Osten. Europa ist ein Wohlstandskontinent. Das ist eine riesige Errungenschaft mit dem paradoxen Effekt und zum Ärgernis mancher Politiker, dass sich seine Rolle in der globalen Arena verringert hat.

Die Furche: Russland stellt das Verhältnis zu Amerika aber weit mehr in den Vordergrund als das zur EU.

Piontkowskij: Der Eindruck stimmt, dass Putin sich gegenüber Europa selbstbewusster und fordernder gibt. Die Frage der Sicher- heit ist sehr wichtig. Ihren eigenen Krieg in Afghanistan haben die Amerikaner nicht gewonnen - El-Kaida und Bin Laden sind nicht vernichtet. Die USA haben dort aber den russischen Krieg gewonnen. Immerhin gibt es jetzt keine Bedrohungen mehr seitens der radikalen Islamisten im usbekischen Fergana-Tal. Erstmals in der Geschichte Russlands hat jemand für Russland die Drecksarbeit erledigt, und zwar die USA. Wenn in Zukunft im Fernen Osten ein Konflikt mit China aufkommt, wird Russland auch auf Amerika zählen. Mit Europa jedoch sollen und werden wir ökonomische Beziehungen entwickeln.

Die Furche: Weshalb aber regt die EU-Osterweiterung Russland auf?

Piontkowskij: Noch mehr hat uns ja die NATO-Osterweiterung aufgeregt, aber jetzt redet schon kein seriöser Politiker mehr davon. Das ist alles Psychologie. Einer unserer populären TV-Moderatoren beginnt seine Sendung folgendermaßen: "Hochverehrte Zuseher, gemäß unseren Prognosen hat man uns abermals ins Gesicht gespuckt, und wir wischen uns wieder ab." Dass man uns im Westen erniedrigt, Verschwörungen gegen uns stattfinden, man uns hinausdrängt - derartige Klagen sind unter der russischen Polit-Elite beliebt. Eine Frage für den Psychotherapeuten. Konkret aber wirft die Erweiterung - gleich wie der Beitritt zur WTO - eine Reihe von praktischen Problemen auf (Visa, Außenhandel, Zollfragen).

Die Furche: Warum macht Putin dann die unrealistische Abschaffung der Visaregelung zum Hauptthema?

Piontkowskij: Es stehen Wahlen vor der Tür. Die Visafrage berührt fast jeden Bürger. Aber auch in der Visafrage liegen 80 Prozent des Problems auf der russischen Seite. Wir haben keine funktionierende Grenze im Süden Russlands. Wenn Russland in die Schengen-Zone kommt, dann automatisch auch Kasachstan, Tadschikistan oder Afghanistan.

Die Furche: Was wäre eine adäquate Politik Russlands in Reaktion auf die EU-Osterweiterung?

Piontkowskij: Das ist weniger eine Frage der Gesetze, die gar nicht so schlecht geschrieben sind, sondern deren Umsetzung - also die Praxis unseres Kapitalismus. Wer wird mit uns kooperieren, wenn ökonomische Fragen bei uns mit Auftragsmorden gelöst werden? Unsere eigenartige Ökonomie ähnelt nur sehr entfernt einer offenen Marktwirtschaft. Macht und Geld sind verschmolzen. Es gibt praktisch keine Transparenz in den Unternehmen. Wettkampf wie Konkurrenz werden durch die Qualität der Beziehungen zum Kreml bestimmt, wo man durch Bestechung eine Öllagerstätte zuerkannt bekommt.

Die Furche: Wie steht die russische Wirtschaft einer Annäherung an Europa gegenüber?

Piontkowskij: Einerseits klagen wir über Antidumpingmaßnahmen oder Behinderungen für den WTO-Beitritt. Andererseits verwendet Oleg Deripaska, einer der reichsten Russen, Millionen Dollar für Reklame gegen den WTO-Beitritt. Deripaska hat sich eine Autofabrik gekauft und will, dass wir noch zehn, 15 Jahre seine Autos kaufen, die dem europäischen Autoniveau der siebziger Jahre entsprechen. Unsere Kapitalisten sind gewohnt, nach anderen Regeln zu spielen. Die Statements gegen den Westen und die WTO kommen aus der Furcht, nach den für alle geltenden Regeln spielen zu müssen - und es nicht zu können.

Das Gespräch führte Eduard Steiner in Moskau.

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