Brief - © Illustration: Rainer Messerklinger

Wann der Appell zu vergeben an seine Grenzen stößt. Ein Brief.

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Eine Mutter misshandelt ihren Sohn fast zu Tode. Der Leidensweg des Kindes bleibt in der Schule, in der Nachbarschaft, in der Kinder- und Jugendhilfe scheinbar unbemerkt. Wiedergutmachtung ist angesichts des Verbrechens ausgeschlossen. Welche Rolle spielt hier Vergebung? Wer bringt sie aufs Tapet? Wer verweigert sie und warum? Eine Reflexion.

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Eine Mutter misshandelt ihren Sohn fast zu Tode. Der Leidensweg des Kindes bleibt in der Schule, in der Nachbarschaft, in der Kinder- und Jugendhilfe scheinbar unbemerkt. Wiedergutmachtung ist angesichts des Verbrechens ausgeschlossen. Welche Rolle spielt hier Vergebung? Wer bringt sie aufs Tapet? Wer verweigert sie und warum? Eine Reflexion.

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Lieber Alexander,

nein, das ist nicht dein richtiger Name. Wüsste ich ihn, er stünde hier trotzdem nicht. Dein Name muss mit aller Kraft geschützt werden. Du musst geschützt werden. Dein Leben, dein Alltag, deine Zukunft, dein Umfeld, in dem du dich bewegst. Das hätte seit dem Tag deiner Geburt geschehen sollen. Das Gegenteil war der Fall. Die Frau, die dich auf die Welt gebracht hat, hat dir großes Leid zugefügt. Ja, du merkst, mir fällt es schwer, diese Frau Mutter zu nennen. Ich setze das Wort Mutter gleich mit Zuflucht, Zuwendung, Fürsorge, Halt, dem Aufgefangensein, dem Sichfallenlassendürfen.

Das alles hast du bei jener Frau, die von den Staatsanwälten, Verteidigern, Richtern, Reportern, Jugendämtern als deine Mutter bezeichnet wird, nicht erfahren. Heute wissen wir, was sie stattdessen getan hat. Sie hat dich gefoltert. Sie hat dich immer wieder in eine Hundebox gesperrt. Die Maße: 57x83x63 Zentimeter. Du warst 1,65 Meter groß, musstest dich zusammenkrümmen, stundenlang in deinem Gefängnis ausharren. Diese Frau hat dich mit kaltem Wasser übergossen, dich hungern lassen. Stunden. Nächte. Du hast sie angefleht, um Essen gebettelt. Sie hat dich ignoriert, beschimpft, ausgelacht, verhöhnt – und gefilmt. Im Winter riss diese Frau das Fenster auf. Alexander – deine Kleidung, deine Haare, deine Haut, alles war klatschnass. Du hast gezittert. Vor Kälte, vor Angst, vor Hilflosigkeit.

Der Mensch, der alles dafür tun sollte, damit du wachsen, dich entwickeln, ein gutes Leben führen kannst, war derjenige, der versucht hat, dich zu entmenschlichen. Ich weiß wohl, dass die Täterin, die offiziell als deine Mutter bezeichnet wird, eine Komplizin hatte. Doch die ist mir gleichgültig. Überall auf der Welt gibt es schäbige, sadistische, skrupellose Personen, vor denen es Kinder zu schützen gilt. Doch die, die dich hätten schützen müssen, haben dich ausgeliefert.

Du bist diesem Martyrium entkommen. Räumlich. Körperlich. Das hoffe ich zumindest. Unter den emotionalen Folgen wirst du dein ganzes restliches Leben lang leiden. Ich glaube kein Wort, wenn jemand behauptet, es wäre möglich, das Erlebte zu verarbeiten. Alexander, dir ist das Urvertrauen in diese Welt genommen worden. Du wirst wieder gute Momente haben. Du wirst lachen, genießen, träumen, herumtoben – für eine Weile vergessen können. Aber die Bilder deiner Vergangenheit werden dich heimsuchen. Was wäre ich froh, wenn ich mich täuschte.

Lass dich nicht auf diesen Pakt ein!

Vergebung. Ich fürchte, irgendwann wird irgendwer dir raten, du sollst versuchen, deiner Mutter (ja, sie ist deine Mutter, auch wenn sie sich ihrer Rolle nicht unwürdiger hätte erweisen können) zu vergeben. Diese Vorstellung macht mich wütend. Wer wagt es, dir nahezulegen, etwas zu verzeihen, was unverzeihlich und unentschuldbar ist? Wen soll das entlasten? Etwa dich? Wem soll diese Gnade gewährt werden? Deiner Mutter? Willst du wissen, was ich denke? Dass hier noch eine Ebene angesprochen wird, der bislang zu wenig Beachtung geschenkt wurde.

Mit dem Vergebungsappell fordert die Gesellschaft an sich deine Absolution ein. Es verstört die Menschen, wenn jemandem langfristig (ein Leben lang?) ein Unrecht zu schaffen macht. Das Opfersein hat ein Ablaufdatum. Eine Zeit lang darfst du dich schlecht fühlen. Doch dann heißt es: Wiedereingliederung ins Weiterso. Du hast zu funktionieren.
Lass dich nicht auf diesen Pakt ein! Dreh den Spieß um. Du solltest dein Schicksal in einen größeren gesellschaftlichen Kontext verorten. In der Soziologie bezeichnet man Gesellschaft als einen sozialen, institutionell gestützten Funktionszusammenhang. Jenes Leid, das dir deine Mutter zugefügt hat, ist keineswegs isoliert zu betrachten. Vielmehr ist es ein Symbol für eine Dysfunktionalität in unserem Zusammenleben. In unserer Gemeinschaft besteht offensichtlich zu wenig Konsens darüber, dass ein Kind unter allen Umständen geschützt werden muss.

Obgleich dich deine Mutter im privaten Raum misshandelt hat, wart ihr zwangsläufig beide gezwungen, mit eurer Umgebung in Beziehung zu treten. Ihr hattet Nachbarn. Du bist zur Schule gegangen, hast Lehrerinnen und Lehrer getroffen, Klassenkameraden, die dich ihren Eltern als Sonderling beschrieben hatten. Das Ausmaß des Unvermögens seitens der zuständigen Sozialarbeiterin – denn in der Tat gab es längst eine Akte bei der Kinder- und Jugendhilfe – verblüfft mich bis heute. Auch im öffentlichen Raum werden Passanten zuweilen die Interaktion zwischen dir und deiner Mutter beobacht und sich ihren Teil dabei gedacht haben. Vielleicht ist es euch ab und zu gelungen, die Menschen zu täuschen. Aber noch besser ist es den Menschen gelungen, wegzuschauen, sich auf sich selbst zu konzentrieren, sich an dem Glaubenssatz festzukrallen, sich lieber nicht in die „Angelegenheit anderer“ einzumischen.

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