Bauernhochzeit Bruegel - © Bild: Wikipedia (Gemeinfrei)

Nahrung – ein Menschenrecht

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„Was werden wir morgen essen?“: Diese Frage stellt sich für viele Menschen nicht nur rhetorisch – und wird sich künftig noch drängender stellen. Ein Essay.

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„Was werden wir morgen essen?“: Diese Frage stellt sich für viele Menschen nicht nur rhetorisch – und wird sich künftig noch drängender stellen. Ein Essay.

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Sie haben es schon getan oder werden es noch tun: nämlich essen. Oder trinken, „weil Speis und Trank in dieser Welt doch Leib und Seel zusammenhält“, wie der Dichter Hinrich Hinsch im 18. Jahrhundert reimte. Essen ist lebensnotwendig, denn ohne Nahrung gibt es kein Leben. Das gilt nicht nur für Menschen, sondern für alle Lebewesen. Leben braucht Nahrung, angemessene Ernährung, fehlende oder mangelhafte Ernährung bringt Krankheit und Tod. Was werden, was können wir morgen essen? Das ist eine Frage des Überlebens.

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Menschen können von Natur aus nicht anders als Kultur zu schaffen. Doch ohne Natur geht gar nichts, wenn es ums Essen geht. Selbst für Fleisch aus dem Labor oder dem 3-D-Drucker ist Natur notwendig: Muskelgewebe oder Bestandteile des Blutes von Tieren, auf jeden Fall Aminosäuren. Und Boden, Wasser, Sonne, Samen: Das sind unabdingbare Voraussetzungen für Wachstum und Nahrung.

Lebensmittel sind kulturell gestaltet – sie werden gekocht, gegart, gebraten, gewürzt, fermentiert, konserviert, flambiert usw., menschliche Tätigkeiten, die gelernt und geübt werden müssen, und die die rohe Natur der Nahrung nach bestimmten, kulturell verankerten Kriterien verändern. Geschmäcker werden schon mit der Muttermilch gelernt. Deswegen ist Essen nicht einfach nur das Aufnehmen von Nahrung: Sich zu ernähren ist ein Prozess, der Identität schafft und bestätigt. Das angenehme Gefühl, gut satt zu sein, ist weit mehr als die Summe der Aufnahme von chemischen Substanzen.

Welches Essen angemessen ist

In Europa, so der Historiker Massimo Montanari, gab es in der Antike zwei große Ess-Kulturen: die mediterrane, in der man Weizenbrot, Gemüse, Käse, Fisch, Wein, Oliven und etwas Fleisch aß, und dies vor allem mit Maß – die antike Tugend des Maßhaltens prägte auch das Essverhalten. Weiter nördlich, bei Franken und Germanen, gehörten Fleisch, Milch und Gerste – letztere als Brei und vergoren als alkoholisches Getränk – zu den Standards. Männlichkeit bewies sich hier im Vielessen und Fleischessen. Wer gern maßvoll oder vorwiegend Gemüse aß, wie etwa Nikephoros Phokas, Kaiser von Byzanz, galt als schwach. Karl der Große dagegen war ein begeisterter Viel- und Fleischesser. Solche kulturellen Muster bestimmen oft bis heute, was als angemessenes Essen gilt. Dass die Deutsche Gesellschaft für Ernährung seit kurzem pflanzenbasierte Nahrung empfiehlt, ist ein bemerkenswerter Kulturwandel. Bis ins 18. Jahrhundert litt das gemeine Volk oft an Hunger, wenn die Ernten durch Wetter, Kriege oder Seuchen schlecht ausfielen. Erst als Mais und vor allem Kartoffel allmählich in Europa heimisch und ab dem 18. Jahrhundert regulär angebaut wurden, war es für das gemeine Volk leichter, satt zu werden.

Wer was essen durfte, war ein sozialpolitisches Thema. Im Kunsthistorischen Museum in Wien zeigt das Bruegels „Bauernhochzeit“ (siebe Bild oben): in großen Holztrögen wird das Festessen zu den Tischen getragen, nämlich – Hirse mit Safran. Bauern sollten einfach und billig essen, das luxuriöse Essen war dem Adel vorbehalten. Der Zugang zu Nahrung zementiert soziale Unterschiede – weswegen etwa in Venedig zu Beginn der Neuzeit Beamte die Haushalte kontrollierten, ob standesgemäß gekocht wurde.

Was werden wir morgen essen – das ist für die rund 30 Prozent der Weltbevölkerung, die nach Angaben der UN-Organisation „World Food Program“ von Hunger oder extremem Hunger betroffen sind, freilich keine rhetorische Frage. Etwa alle vier Sekunden stirbt ein Mensch an Hunger, pro Tag rund 25.000 Menschen. Die Ursachen sind in fast der Hälfte aller Fälle direkte kriegerische Konflikte, zu etwas mehr als einem Drittel extreme Wetterbedingungen (etwa Dürre oder Überschwemmungen); der Rest resultiert aus wirtschaftlichen Schocks wie Covid-19 oder dem Stopp der Getreidelieferungen durch den Ukrainekrieg (vgl. www.fsinplatform.org).

Auch der größte Teil der Menschen in Österreich gehört zur wohlhabenden Hälfte der Erde. Dennoch leiden 127.000 Kinder hierzulande unter Mangelernährung.

Die Eliten sind auch heute vom Hunger kaum betroffen. Global gesehen ist dies mehr als das eine Prozent, dem fast die Hälfte des weltweit verfügbaren Vermögens gehört. Dazu zählen auch die allermeisten Menschen, die in den nördlichen Industriestaaten leben, insgesamt etwa eine Milliarde. Auch der größte Teil der Menschen in Österreich gehört, global gesehen, zur wohlhabenden Hälfte. Doch verdienen in Österreich, einem der reichsten Länder der EU, rund 600.000 Menschen zu wenig Geld, um ausreichend ausgewogene Nahrung zu kaufen. Daher leiden 127.000 Kinder in Österreich unter Mangelernährung – was bleibende körperliche und psychische Probleme zur Folge hat, so Volkshilfe und Caritas. Weltweit gesehen leiden zudem fast zwei Milliarden Menschen an Übergewicht aufgrund von krankmachender Fehl- oder Mangelernährung.

Die Frage nach der Ernährung von morgen ist dringlich – nicht nur aus medizinischen oder demographischen Gründen, sondern vor allem wegen einer unheilvollen Mischung von ökonomischen, landwirtschaftlichen und klimatischen Gründen. Im Auftrag von Weltbank und UNO haben über 400 Wissenschaftler 2008 den Weltagrarbericht erstellt, eine schonungslose und daher höchst unbequeme Analyse des planetaren Status quo. Das Ergebnis: Die industrielle Agrarwirtschaft zielt auf hohe Gewinne und beutet dazu die natürlichen Ressourcen aus. Die Übernutzung des Bodens führt unter anderem zur Zerstörung des Humus – also jener relativ dünnen Schicht, in der Milliarden von Bodenorganismen das Wachstum von Pflanzen ermöglichen. Durch die drastischen Eingriffe in natürliche Kreisläufe – Stichwort mineralische Dünger und Pestizide – ist 2023 bereits rund ein Fünftel der europäischen Flora und Fauna unmittelbar vom Aussterben bedroht. Die meisten dieser Arten sind nicht unmittelbar menschliche Nahrung und oft für Menschen lästige Insekten – aber unverzichtbar zur Aufrechterhaltung der Kette des Lebens, als Bestäuber und Nahrung für andere Tiere.

Agrarwüsten als Dystopie

Das Artensterben zerstört die natürliche Nahrungskette – und damit die Grundlagen menschlicher Existenz. Agrarwüsten sowie Saatgut- und Düngemittelkonglomerate sind nicht geeignet, das Überleben der Menschheit zu sichern, so der Weltagrarbericht. Ernährungssicherheit für die Weltgemeinschaft können nur kleine Bauern sichern, die Agroforstwirtschaft betreiben, also eine Mischwirtschaft mit Bäumen, Feldern und Tieren in kleinen Einheiten.

Die Upanishaden, die fast 3000 Jahre alten heiligen Schriften Indiens, sind in puncto Nahrung sehr klar: „Aus Nahrung entstehen alle Lebewesen dieser Erde. Sie leben durch Nahrung und werden am Ende selbst Nahrung.“ Zerstört man die Nahrungskette, zerstört man die Menschheit. Das Recht auf Nahrung ist ein Menschenrecht.

Die Autorin ist Research Fellow am Institut für Religionswissenschaft der Uni Wien und Kuratorin des Symposion Dürnstein.

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