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FOKUSAufwachsen neben der Frauenstrafanstalt: Eine paradoxe Faszination von Zita bis Gitter
Neben einem Gefängnis aufzuwachsen, verändert den Blick auf die Menschen – drinnen wie draußen. Eine persönliche Auseinandersetzung.
Neben einem Gefängnis aufzuwachsen, verändert den Blick auf die Menschen – drinnen wie draußen. Eine persönliche Auseinandersetzung.
Wo wohnst du?“, ist eine banale Frage. In meiner Kindheit und Jugend wurde sie oft zum Gag. Manchmal hat sie mich genervt. Meistens siegte das Gefühl, besonders zu sein. „Wo wohnst du?“, habe ich 25 Jahre lang mit „Schwarzau am Steinfeld“ beantwortet. Und nicht selten kam die selbstverständlich scherzhaft zu verstehende Rückfrage: „Haben’s dich heute ausg‘lassen?“
Früh war für mich klar: „Auslassen“ kann man nur jemanden, der zuvor eingesperrt wurde. In Schwarzau am Steinfeld betrifft das aktuell 151 Frauen. Sie sind verurteilte Straftäterinnen und sitzen hier im Süden Niederösterreichs ihre Haft ab. Unter ihnen sind Steuerbetrügerinnen ebenso wie Räuberinnen oder Mörderinnen. Sie gelten damit gemeinhin als Menschen am Rande der Gesellschaft. Dieser Rand ist in Schwarzau mitten im Ort zu finden. Die Republik Österreich hat das ehemalige Bourbonen-Schloss 1951 gekauft und in eine Frauenstrafanstalt umgewandelt. Dort, wo sich einst der europäische Adel die Hand gab, vollzieht seither die Justiz ihre Strafen. Geblieben sind prunkvolle Verzierungen, Teile der Parkanlage sowie historische Fresken in den Verwaltungsräumlichkeiten – und eine paradox anmutende Faszination für das, was sich hinter den historischen Mauern verbirgt.
Nirgendwo konnte ich mir als Jugendliche diese Frage besser stellen als kurz vor sieben Uhr morgens auf der Bushaltestelle Schlossplatz. Am Szenario hat sich bis heute wenig geändert: Während diejenigen, die im angrenzenden Wiener Neustadt Höhere Schulen besuchen, auf den Bus warten, öffnet sich das gegenüberliegende Tor fast minütlich. Die Beamtinnen und Beamten fahren vor, um ihren Dienst anzutreten. Selten, aber doch, kommt auch jemand heraus, um die Straßenseite zu wechseln und ebenfalls auf den Bus zu warten. Dann rotten sich die Grüppchen noch mehr zusammen, hie und da wird getuschelt. So nah dran an den Strafgefangenen ist man schließlich selten, die großen hohen Mauern und der Stacheldrahtzaun sind sonst eine für alle Seiten unüberwindbare Hürde.
Unsichtbarste Form des Strafvollzuges
Zu meiner Gymnasialzeit gab es zwei „Freigängerinnen“, die morgens denselben Bus nahmen wie ich. Sie hatten eine „Bewilligung zur Außenarbeit ohne Überwachung“. Ihren Dienst versahen sie in der Filiale eines Großhändlers. Was sie wohl angestellt hatten? Ich weiß es nicht. Ich habe mich nie getraut zu fragen, auch wenn sie im Bus direkt vor mir saßen. Ich wusste nur: Sie wurden tatsächlich „ausgelassen“, zumindest kurzfristig. Die Justiz sieht im Freigang ein wichtiges Mittel zur Resozialisierung im Rahmen des Entlassungsvollzuges. Ich habe es immer als die gleichzeitig sichtbarste wie unsichtbarste Form des Strafvollzuges im Ort wahrgenommen. Hätten wir Schüler die beiden Frauen nicht morgens durch die Gefängnistore gehen gesehen, wir hätten nicht gewusst, wo sie zu diesem Zeitpunkt tatsächlich wohnten.
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