Antisemitismus wird wieder salonfähig

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Gegen antisemitische Gesinnungen gibt es kein Gesetz, aber es gibt Verachtung und Menschenliebe, die einzigen Mittel der Gesellschaft, die Launen der Masse vor ihrer politischen Salonfähigkeit zu bewahren.

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Gegen antisemitische Gesinnungen gibt es kein Gesetz, aber es gibt Verachtung und Menschenliebe, die einzigen Mittel der Gesellschaft, die Launen der Masse vor ihrer politischen Salonfähigkeit zu bewahren.

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Stefan Zweigs späte Erinnerungen an die behütete Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beschreiben eine bürgerliche „Welt der Sicherheit“. Als Hannah Arendt 1943 Zweigs posthum erschienene Welt von gestern aus ihrem amerikanischen Exil besprach, schrieb sie diesen denkwürdigen Satz: „Hätten Juden jener west- und zentraleuropäischen Länder sich auch nur im Mindesten um die politische Realität gekümmert, sie hätten allen Grund gehabt, sich nicht gerade sicher zu fühlen.“

Diese Worte haben heute einen unheimlichen Nachklang. Denn sie sind nicht nur an Jüdinnen und Juden gerichtet, und nicht nur an europäische Länder, sondern sie betreffen eine viel weitere politische Realität und eine viel größere Zahl von Menschen unter uns, die sich heute nicht mehr gerade sicher fühlen. Ein politischer Bannkreis schließt sich immer enger um all jene, die irgendwie „anders“ sind. Er schließt sich, da Politik wieder
zu dem geworden ist, was Max Scheler um die Zeit des Ersten Weltkriegs „Massenschmeichlerei“ nannte. Für Scheler sollte der Politiker „Vorbild“ sein und damit eigentlich „Massenverächter“, denn die „Masse“ ist immer launisches „Augenblicksgeschöpf“. Die Kunst der Politik sei es, die Masse zu verachten, aber den Menschen zu lieben. Dies war kein Elitismus bei Scheler: Es war politische Verantwortung.

Eine Debatte ist entfacht um ein Gesetz, das unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ den neuen Antisemitismus bekämpfen soll. Besonders in progressiven Kreisen wird der Entwurf als Gesinnungs-Polizei verurteilt. Tatsächlich: Gegen Gesinnungen gibt es kein Gesetz. Aber es gibt Verachtung und Menschenliebe, die einzigen Mittel der Gesellschaft, die Launen der Masse vor ihrer politischen Salonfähigkeit zu bewahren. So wird
politische Realität vielleicht mehr als bloßer Widerhall. So wird sie Vorbild.

Der Autor ist Professor für moderne jüdische Philosophie an der University of Virginia, USA.

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