Kinder und Gott - © APA-FOTO: HARALD SCHNEIDER

Schulpsychologin Andrea Richter: "Krisen passieren selten, aber wenn, dann mit voller Wucht"

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Von der Bombendrohung bis zum Unfall: Andrea Richter zeigt Schulleitungen und Lehrkräften, wie sie sich auf den Ernstfall vorbereiten. Unabhängig von Krisen wünscht sich die erfahrene Schulpsychologin eine Gesellschaft, die Kindern mehr Platz und Autonomie einräumt.

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Von der Bombendrohung bis zum Unfall: Andrea Richter zeigt Schulleitungen und Lehrkräften, wie sie sich auf den Ernstfall vorbereiten. Unabhängig von Krisen wünscht sich die erfahrene Schulpsychologin eine Gesellschaft, die Kindern mehr Platz und Autonomie einräumt.

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DIE FURCHE: In einem Arbeitskreis bei der Pädagogischen Werktagung Salzburg beschäftigen Sie sich speziell mit Krisen. Sie schulen beispielsweise Lehrkräfte in der Erstellung von Krisenplänen. Was ist eigentlich eine „Krise“?

Andrea Richter: Der Begriff wird inflationär gebraucht. Ich definiere ihn so: Eine Krise passiert von jetzt auf gleich, sie ist beängstigend, und ich war nicht auf sie vorbereitet. Im Hinterkopf wissen wir, dass immer etwas passieren kann. Krisen haben eine geringe Auftretenswahrscheinlichkeit, aber wenn sie eintreten, dann mit voller Wucht.

DIE FURCHE: Welche Krisen können in Schulen passieren?

Richter: Ein Beispiel ist eine Bombendrohung. Das Schulteam alarmiert die Polizei und räumt das Gebäude, so wie bei einem Feueralarm. Aber die Sammelplätze für die Schülerinnen und Schüler sind meist viel zu nah am Gebäude. Außerdem dauert es nach einer Bombendrohung meist Stunden, bis Lehrkräfte und Kinder wieder in die Schule können. Vor allem für einen Schulcampus mit Tausenden Schülerinnen und Schülern stellt dieses Szenario eine enorme Herausforderung dar.

DIE FURCHE: Haben Sie noch ein Beispiel?

Richter: Eine Lehrkraft fällt während des Unterrichts plötzlich um, zum Beispiel wegen eines Hirnschlags. Die Rettung wird alarmiert, aber was passiert danach? Was sage ich den Schülerinnen und Schülern? Aus dem Schock heraus entscheiden Schulleitungen oft, sie nach Hause zu schicken, was ein Problem ist. Einerseits hat die Schule Aufsichtspflicht, und auch bei Oberstufenschülerinnen und -schülern ist diese Lösung nicht optimal. Sie fahren nicht nach Hause, sondern in die Stadt, und alle Informationen – oder gar Gerüchte – verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Alle diese Schritte müssen in einem Krisenplan bedacht werden.

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DIE FURCHE: Warum sind so wenige Schulteams auf Krisen vorbereitet?

Richter: In kleinen Schulen heißt es oft: So einen Vorfall hatten wir noch nie, das wird uns auch nie betreffen. Natürlich fehlen auch oft die zeitlichen Ressourcen für die Krisenvorbereitung. Außerdem sind die Themen – Krankheiten, Gewalt, Unfälle – unangenehm. Damit wollen wir Menschen uns nicht beschäftigen. Dabei geben Krisenpläne Sicherheit. Von realistischen Übungen halte ich allerdings nichts.

FURCHE: Warum?

Richter: Selbst wenn die Kinder und Jugendlichen vorgewarnt sind, dass es sich nur um eine Übung handle, können sie so sehr in das Szenario hineingezogen werden, dass die psychischen Belastungen enorm sein können und bis zu einer Traumatisierung reichen können. Ich bin auch gegen Übungen, in denen Kinder lernen, wo sie sich vor einem aktiven Schützen verstecken, wie es sie in den USA gibt. Aber ich bin dafür, dass Lehrkräfte geschult werden. Die Kinder sollten jedoch lernen, im Krisenfall auf sie zu hören. Aber praktische Übungen sollten mit Bedacht durchgeführt werden. Vor einiger Zeit löste ein Kindergarten einen Feueralarm aus, der allerdings so laut war, dass sich zwei Kinder verängstigt unter einer Couch versteckt haben. Es wäre sinnvoller gewesen, die Kinder erst einmal spielerisch vorzubereiten.

Andrea Richter, Schulpsychologin - © privat

Andrea Richter

  • Seit 1984 als Schulpsychologin tätig
  • Seit 2004 Leiterin der Abteilung Schulpsychologie in der Bildungsdirektion NÖ
  • Studium: Psychologie, Biologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Geschichte
  • Arbeitsschwerpunkte: Schulung von Schulteams im Krisenmanagement, Erstellung von Krisenplänen, Umgang mit Medienanfragen im Krisenfall
  • Seit 1984 als Schulpsychologin tätig
  • Seit 2004 Leiterin der Abteilung Schulpsychologie in der Bildungsdirektion NÖ
  • Studium: Psychologie, Biologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Geschichte
  • Arbeitsschwerpunkte: Schulung von Schulteams im Krisenmanagement, Erstellung von Krisenplänen, Umgang mit Medienanfragen im Krisenfall

DIE FURCHE: Im Internet oder in Büchern gibt es generelle Krisenpläne. Reicht es nicht, so einen auszudrucken?

Richter: Nein, die Krisenpläne müssen individuell erarbeitet und im Team durchgespielt werden. Nur wenn die Lehrkräfte bei der Entwicklung beteiligt sind, fühlen sie sich auch zuständig.

DIE FURCHE: Es heißt ja, Krisen seien Chancen. Wie können Schulteams gestärkt aus Krisen hervorgehen?

Richter: Gut läuft es, wenn sich die Schule gemeinsam vorbereitet hat. Das bedeutet, dass Lehrkörper, Schulleitung, Sekretariat, Schulwart oder Schulwartin, Schularzt oder Schulärztin wissen, welche Rollen sie in der Krise haben.

DIE FURCHE: Und wenn die Krisenbewältigung nicht gelingt?

Richter: Dann folgen rasch Schuldzuweisungen, oder es bricht Panik aus. Einzelne Lehrkräfte erfinden spontan Maßnahmen für ihre Klassen, ohne die ganze Schulgemeinschaft mitzudenken. Häufig gibt es auch Vorwürfe von Eltern. Im schlimmsten Fall haben Kinder Schaden genommen oder sind nicht rechtzeitig ins Krankenhaus gekommen. Wenn es schiefgeht, dann geht es meistens ordentlich schief.

DIE FURCHE: Zur misslungenen Krisenbewältigung tragen häufig auch Medien bei.

Richter: Ich möchte keine Bösartigkeit unterstellen, aber Journalistinnen und Journalisten wissen genau, wie sie Informationen entlocken. Sie fragen: „Ich habe gehört, der Thomas aus der 3a hat ein anderes Kind angegriffen.“ Und die Lehrkraft antwortet: „Das war nicht der Thomas, sondern der Friedrich.“ Und schon ist der Name publik. Das Sekretariat und die Lehrkräfte müssen zum Beispiel wissen, dass sie nicht mit den Medien sprechen dürfen. Für die Schule spricht maximal die Schulleitung, sonst niemand. Außerdem unterliegen sie der Verschwiegenheitspflicht. So werden die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auch geschützt.

DIE FURCHE: Sie waren seit 1984 als Schulpsychologin tätig. Gibt es heute mehr Herausforderungen für Lehrkräfte als früher?

Richter: Nicht nur Schulen haben sich verändert, sondern die Gesellschaft. Wir können nicht erwarten, dass die Schule von vor 40 Jahren im Heute bestehen würde. Vieles war damals gut, vieles aber auch nicht. Dasselbe gilt heute. Die sprachliche Vielfalt vor allem im urbanen Raum ist eine Herausforderung. Kinder haben ein Recht auf ihre Muttersprache, in ihr drücken sie ihre Gefühle aus. Aber natürlich sind Lehrkräfte gefordert, weil sie den Kindern parallel noch Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Computer, Finanzerziehung, Klimaschutz und so weiter beibringen sollen.

DIE FURCHE: Die Anforderungen sind hoch.

Richter: Als Gesellschaft spielen wir jedes neue Thema über die Schule. Auch die richtige Mülltrennung haben wir damals den Schülerinnen und Schülern beigebracht, in der Hoffnung, dass sie zuhause ihre Eltern unter Druck setzten, auch Müll zu trennen.

DIE FURCHE: Welche Rolle spielen hier Medien und vor allem soziale Medien?

Richter: Die Berichterstattung und die ständigen Wiederholungen traumatisierender Bilder bringen die Katastrophen der Welt ins Wohnzimmer. So bekommen wir das Gefühl, dass die eigene Welt total unsicher geworden ist. Informationen aus sozialen Medien kann ich auch schwer einschätzen, weil ich den Menschen dahinter nicht kenne. Wenn mir Person X aus meinem Dorf eine Geschichte erzählt, dann nehme ich das mit einer Tonne – nicht nur einem Körnchen – Salz, weil sie eine bekannte Tratschtante ist. Aber die Person hinter dem YouTube-Kanal kenne ich nicht.

Fasten Kloster - © Foto: Newmann Rita

Veränderungen annehmen, gestalten, begleiten

Die Internationale Pädagogische Werktagung Salzburg

  • Von 10. bis 12. Juli findet die Fachtagung zum Thema „Veränderungen annehmen, gestalten, begleiten“ statt, die sich an Menschen richtet, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten.
  • Veranstaltet wird sie vom Katholischen Bildungswerk Salzburg in Kooperation mit der Caritas Österreich, der Paris Lodron Universität Salzburg und der Pädagogischen Hochschule Salzburg Stefan Zweig, unterstützt vom Land und der Stadt Salzburg.
  • Von 10. bis 12. Juli findet die Fachtagung zum Thema „Veränderungen annehmen, gestalten, begleiten“ statt, die sich an Menschen richtet, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten.
  • Veranstaltet wird sie vom Katholischen Bildungswerk Salzburg in Kooperation mit der Caritas Österreich, der Paris Lodron Universität Salzburg und der Pädagogischen Hochschule Salzburg Stefan Zweig, unterstützt vom Land und der Stadt Salzburg.

DIE FURCHE: Sie haben jahrzehntelange Erfahrung in der Arbeit mit Kindern, Lehrkräften und Eltern. Welchen Irrglauben haben Eltern?

Richter: Manche Eltern glauben, dass ihre Kinder ihnen alles erzählen. Das stimmt nicht und hat noch nie gestimmt. Auch wir haben unseren Eltern damals nur die Dinge erzählt, bei denen wir sie gebraucht haben oder für die wir gelobt werden wollten. Gerade im digitalen Raum erleben die Kinder sehr viel, was sie ihrer Mutter nicht berichten, „weil sonst verbietet sie mir das Internet“. Eigentlich möchten sie frei erzählen, ohne sofort eine Reaktion zu bekommen, geschimpft zu werden oder die Eltern zu alarmieren.

DIE FURCHE: Zum Beispiel?

Richter: Manche Kinder erzählen ihren Eltern nicht, dass sie in der Schule von anderen Kindern gequält werden, weil sie befürchten, dass die Eltern sofort in die Schule rennen und alles schlimmer machen. Eltern sollten es schaffen, auf die Bremse zu steigen, auch wenn sie betroffen und wütend sind. Ich muss mich zurücknehmen, meinem Kind zuhören und ihm helfen, selbst eine Lösung zu finden. Manchmal fehlt Eltern heute das nötige Mittelmaß oder das Fingerspitzengefühl.

FURCHE: Warum, glauben Sie, ist das so?

Richter: Das hat unter anderem mit der Kinderanzahl zu tun. Habe ich ein oder maximal zwei Kinder, dann kann ich mich sehr auf den Einzelnen oder die Einzelne konzentrieren und habe gleichzeitig wenig Erfahrung. Habe ich mehrere Kinder, dann erziehen die älteren Geschwister die jüngeren mit, und die Eltern sind meist gelassener. Sie sagen: Dasselbe hatten wir doch schon vor zehn Jahren, mit dem Buben!

FURCHE: Wenn Sie eine Änderung sofort umsetzen könnten, um die Welt für Kinder zu verbessern, welche wäre es?

Richter: Wir, als Gesellschaft, sollten kinderfreundlicher werden. Das heißt, mehr Platz für Kinder als für Autos. Kinder brauchen Auslauf, Bewegung, Freiheit. Natürlich ist das in der Stadt fast nicht durchführbar, aber zumindest am Land wäre Platz für große Schulgärten. In jeder freien Minute sollten Kinder raus in die Natur! Alle Initiativen sind gut, die dazu führen, dass der Schulweg entspannter wird, eine Zeit, in der man Abenteuer erleben kann, allein und nicht dauernd kontrolliert von den Eltern. Wir brauchen mehr Platz für Kinder. Und damit kriegen wir auch mehr Platz für Menschen überhaupt.

FURCHE: Mehr Freiheit ist also die Antwort?

Richter: Nicht nur. Kinder wollen auch Regeln, und zwar Regeln, bei denen sie sich auskennen. Sie wollen nicht gegängelt werden oder das Gefühl haben: Das ist keine Leine, sondern ein Würgehalsband. Sie wollen nicht für jede Verfehlung massiv sanktioniert werden. Sie brauchen Platz, um zu spielen und Abenteuer zu erleben. Je enger die Struktur wird, desto stärker werden die Kinder dagegenlaufen. Die Buben wehren sich aktiv gegen die Einengung, deshalb zeigen sie auch häufiger Verhaltensauffälligkeiten. Die Mädchen neigen dazu, alles in sich hineinzufressen, was zu einem niedrigen Selbstwertgefühl führt.

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