Theologe Hans-Joachim Höhn: "Es gibt heute toxische Gottesbilder"
Heutige Menschen sind sich selbst die letzte Instanz. Doch in der Not wenden sich viele an Gott. Der Theologe Hans-Joachim Höhn erklärt, inwiefern Gottvertrauen noch zeitgemäß ist.
Heutige Menschen sind sich selbst die letzte Instanz. Doch in der Not wenden sich viele an Gott. Der Theologe Hans-Joachim Höhn erklärt, inwiefern Gottvertrauen noch zeitgemäß ist.
Ist Gott eine Instanz, die direkt im Alltag interveniert, wenn alle anderen Stricke reißen? Die Kirchen hätten jedenfalls zu diesem Gottesbild beigetragen, meint Hans-Joachim Höhn. Mit der FURCHE hat der emeritierte Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie der Universität Köln über göttliches Eingreifen, menschliche Verantwortung – und Vertrauen als elementare Grundhaltung gesprochen. Dieses Jahr erhält er den „Theologischen Preis“ bei den Salzburger Hochschulwochen.
DIE FURCHE: Eltern lesen Ratgeber, anstatt der Hebamme blind zu vertrauen; Mitarbeitende fordern, dass Gehälter offengelegt werden; Wählerinnen und Wähler wollen mehr Einblick in politische Prozesse. Transparenz und Kontrolle sind im Trend. Ist Vertrauen eine überholte Idee?
Hans-Joachim Höhn: Dasselbe Phänomen gibt es in der Medizin, wenn der Patient mit der Ärztin über die richtige Operationstechnik verhandelt. In der Debatte um die Corona- Impfstoffe war das Systemvertrauen völlig erschüttert. Teile der Bevölkerung waren misstrauisch und wollten erst in Aushandlungsprozesse treten. Aber wenn die Dringlichkeit hoch ist, dann muss ich das Risiko des Vertrauens eingehen. Ich muss glauben, dass mein Gegenüber tatsächlich einen Kenntnis- und Kompetenzvorsprung hat. Aber vielleicht muss das Vertrauen in Institutionen und ihr Funktionieren wieder neu erworben und eingelöst werden.
DIE FURCHE: Dieses Zusammenspiel von Selbstvertrauen und Vertrauen ist spannend. Haben wir heute zu viel Selbstvertrauen?
Höhn: Manche Menschen haben Erfahrungen gemacht, in denen sie so getäuscht wurden, dass sie in wichtigen Angelegenheiten nur noch sich selbst trauen. Sie verstehen sich selbst als letzte Instanz, die darüber entscheidet, was mit ihnen passiert. Ein anschauliches Beispiel ist die Selbstmedikation: Ich bin überzeugt, dass ich am ehesten weiß, was mir guttut. Patienten gehen zum Arzt und erwarten eigentlich nur noch, dass er ihnen für die Diagnose, die sie sich bereits selbst gegeben haben, das passende Rezept ausstellt. Auf das Gefühl, übergangen zu werden, reagieren moderne Menschen sehr sensibel, gerade in existenziellen Angelegenheiten. Es ist gut möglich, dass wir mit dem Vertrauensvorschuss heute zurückhaltend geworden sind. Das Individuum fragt die Institution: Bist du es auch wert, dass ich dir Vertrauenskredit gewähre?
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