Mental Health Days Aufmacher - © Mental Health Days

So schaffen es die „Mental Health Days“, dass Schüler über psychische Gesundheit sprechen

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Mobbing, Depressionen, Leistungsdruck: Ein Wiener Verein setzt mit interaktiven Workshops an Schulen auf Prävention statt Reaktion. Eine Reportage anlässlich des Suizidpräventionstags am 10. September.

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Mobbing, Depressionen, Leistungsdruck: Ein Wiener Verein setzt mit interaktiven Workshops an Schulen auf Prävention statt Reaktion. Eine Reportage anlässlich des Suizidpräventionstags am 10. September.

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Ein Vormittag in der AHS Ödenburger Straße in Wien Floridsdorf, es ist Mitte Mai. In der Aula ist eine Bühne aufgebaut, inklusive großem Screen und Scheinwerfern, davor ein Dutzend Stuhlreihen. Langsam füllen Schülergrüppchen die Plätze, die hinteren Sessel zuerst. Dann beginnt das 50-minütige Modul. „Habt ihr heute schon Zähne geputzt?“ fragt ein Mann mittleren Alters im grauen Hoodie. „Und habt ihr heute schon über eure Gefühle nachgedacht?“

Dialog Gespräch - © Foto: iStock / Anton Vierietin

Sollten Sie sich in einer ausweglosen Situation sehen, finden Sie Hilfe unter www.suizid-praevention.at sowie rund um die Uhr, anonym und kostenlos bei der Telefonseelsorge unter der Nummer 142.

Wenn Sie sich um jemanden in Ihrer Umgebung Sorgen machen, finden Sie unter bittelebe.at wichtige Informationen.

Sollten Sie sich in einer ausweglosen Situation sehen, finden Sie Hilfe unter www.suizid-praevention.at sowie rund um die Uhr, anonym und kostenlos bei der Telefonseelsorge unter der Nummer 142.

Wenn Sie sich um jemanden in Ihrer Umgebung Sorgen machen, finden Sie unter bittelebe.at wichtige Informationen.

Golli Marboe stellt sich vor, eigentlich ist er Medienexperte und Journalist, seine Fertigkeiten nutzt er als Initiator und Moderator der „Mental Health Days“. Dabei handelt es sich um interaktive Workshops für Schülerinnen, Schüler und Lehrlinge, inklusive Veranstaltungen für Pädagoginnen und Pädagogen sowie Erziehungsberechtigte. Es geht um die Themen, die viele junge Menschen belasten: Mobbing, Körperbilder, Sucht, Internetabhängigkeit, Depressionen, Leistungsdruck, Suizidalität, Ängste. Das medienversierte Team der Mental Health Days hat sie altersgerecht aufbereitet mit Experten und Partnern, wie der Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni Wien, dem Kriseninterventionszentrum und der Telefonseelsorge. Den Workshop absolviert Marboe in Doppelkonferenz mit Psychologen oder Psychotherapeuten.

Was macht mich traurig?

Marboes Motivation ist persönlich: Sein Sohn verstarb mit 29 Jahren an Suizid. Darüber schrieb er 2019 für die FURCHE, und er erzählt auch den Jugendlichen von Tobias, und darüber wie sehr er ihn vermisst. Marboe ist routiniert, wiederholt Sätze, die er schon hunderte Male gesprochen hat, und dennoch passiert etwas im Raum: Das Geflüster verstummt.

Der folgende Workshop ist kurzweilig und unterhaltsam, mit bunten Grafiken, Videos und Musik. Als Vorbilder in Sachen Mentaler Gesundheit dienen etwa der HipHop-Musiker RAF Camora oder die Sängerin Selena Gomez, zwei berühmte Idole, die öffentlich über ihre psychischen Probleme sprechen. Dann sollen die Schülerinnen und Schüler per anonymer Handyabstimmung eine Frage beantworten: „Was macht mich traurig?“ Die gesammelten Wörter werden auf den Screen projiziert, in der Mitte prangt groß das Wort „Schule“.

Die gesammelten Antworten werden auf den Screen projiziert, in der Mitte prangt groß das Wort „Schule“.

Anfangs seien einige Schulbehörden skeptisch gewesen, erzählt Marboe später. Psychische Gesundheit sei schließlich ein hochsensibles Thema. Warum sollte man einem schulfremden Verein erlauben, mit Schülerinnen und Schülern darüber zu sprechen? Weil es sonst nur wenige tun, so die Antwort. Mittlerweile haben er und sein Team die Behörden überzeugt, sie halten die Workshops schon seit zwei Jahren österreichweit ab. Mit über 400 Schulen sei die Nachfrage aktuell so groß, dass der Verein ihr nicht nachkommen kann.

Natürlich sind Bildungs- sowie Gesundheitsministerium– vor allem angesichts der Pandemienachwehen – nicht tatenlos. Das Schulsupportpersonal wurde aufgestockt: mehr Sozialarbeiter, mehr Psychologen, mehr Kinder- und Jugendpsychiatrieplätze. Faktisch fehlt es aufgrund des Personalmangels dennoch an allen Ecken und Enden. Außerdem, plädiert Marboe dafür, noch mehr auf Prävention statt nur Sanierung zu setzten.

Neugierig machen und Mythen korrigieren

Die Mental Health Days sind keine Therapie und sie können keine vollumfängliche Aufklärung leisten. Sie sollen die Neugier wecken, Mythen revidieren und Gesprächsräume aufmachen. So erklärt etwa die Psychologin Dagmar Taferner den Jugendlichen, dass man in der Therapie, dem „Andersland“, anders über Gefühle und Sorgen sprechen kann als mit Familie und Freundinnen und Freunden, und dass moderne Antidepressiva nicht abhängig machen.

Mental Health Days  - © Mental Health Days
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Die klinische Gesundheitspsychologin und Psychotherapeutin engagiert sich schon seit Herbst 2022 bei den Mental Health Days. Es gäbe immer noch viele Missverständnisse rund um psychische Gesundheit, trotzdem habe sich im Laufe ihrer 30 Berufsjahre viel verbessert. Taferners Erfahrung nach hätten Kinder wenig Scheu gegenüber psychosozialer Unterstützung, das Vertrauen von Jugendlichen sei schwieriger zu gewinnen. „Das zweite Lebensjahrzehnt ist das Krisenjahrzehnt schlechthin“, sagt die Therapeutin. Gerade männlichen Jugendlichen falle es schwer, sich Hilfe zu suchen. Ihr Ratschlag an Eltern und Großeltern: Kinder und Jugendliche ernst nehmen und ihre Sorgen nicht bagatellisieren. „Wahrheitsgemäß antworten und handeln, das ist sehr wichtig. Egal, wie schlimm eine Situation ist,“ so Taferner.

Die Universität Wien nutzt die anonymisierten Antworten, die die Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Workshops geben, für eine wissenschaftliche Studie. Ein erstes Ergebnis aus über 6.000 Fragebögen: Rund ein Drittel der Jugendlichen gaben an, bereits gemobbt worden zu sein. Und 27 Prozent sagten, sie hätten innerhalb der letzten Wochen mindestens an einzelnen Tagen daran gedacht, dass sie lieber tot wären oder sich ein Leid zufügen möchten.

Bildungsminister Polaschek sieht Lehrkräfte in der Verantwortung

Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) zieht es als Gast einer Pressekonferenz der Mental Health Days Ende August in Erwägung, noch mehr in Schulsupportpersonal zu investieren. Außerdem verweist er darauf, dass Lehrkräfte aufgefordert seien, sich dem Thema der mentalen Gesundheit fächerübergreifend zu widmen. Nicht zuletzt sei es auch Gesamtverantwortung der Gesellschaft, Stigmata aufzubrechen.

Mental Health Days  - © Mental Health Days
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Marboe findet, die Schule habe eine große Chance, präventiv zu wirken. Lehrkräfte, die oft selbst psychisch belastet seien, könnten diese Aufgabe aber kaum allein bewältigen. Deshalb möchte er mit den Mental Health Days bis 2030 an allen Schulen in Österreich aktiv sein, doch dafür braucht es die nötige finanzielle Unterstützung.

„Wir empfinden heute weniger Scham dabei, zu sagen, dass wir nicht alles im Griff haben. Manchmal schafft man es nicht allein aus einer Krise heraus, genauso wie ich mir nicht selbst den Blinddarm operieren kann,“ sagt der Journalist. Die psychische Gesundheit sei nun einmal Teil des Lebens. Ein selbstverständlicherer Umgang damit wäre für alle hilfreich.

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