Joseph Conrad - © Foto: Getty Images / Bettmann

Reise ins Grauen: Joseph Conrads "Herz der Finsternis"

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Vor 100 Jahren starb Joseph Conrad. Mit „Herz der Finsternis“, einer seiner bekanntesten Erzählungen, thematisierte er 1899 als einer der Ersten die belgischen Gräueltaten im Kongo.

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Vor 100 Jahren starb Joseph Conrad. Mit „Herz der Finsternis“, einer seiner bekanntesten Erzählungen, thematisierte er 1899 als einer der Ersten die belgischen Gräueltaten im Kongo.

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„Die Nellie, eine Hochseejacht, schaukelte an ihrem Anker ohne das leiseste Flattern der Segel. Die Flut lief ein und es war fast windstill, und da wir flussabwärts wollten, blieb uns nichts anderes als beizudrehen und auf den Wechsel der Gezeiten zu warten.“ Was für ein Beginn. Diese Stimmung. Diese Stille. Und doch, wie sich in den nächsten Sätzen herausstellen wird, befinden wir uns nicht irgendwo inmitten unberührter Natur, sondern auf der Themse, nahe der „größten, großartigsten Stadt auf Erden“.

Die ersten Sätze in Joseph Conrads berühmter Erzählung „Herz der Finsternis“ stellen sofort eine Atmosphäre her, nehmen die Lesenden mit auf die Hochseejacht, in der die Seeleute sitzen und zum Warten gezwungen sind. Das ist in der Literatur von jeher eine Situation, bei der das Erzählen einsetzt. Man denke nur an Giovanni Boccaccios „Decamerone“, der die in ein Landhaus Geflohenen einander erzählen lässt, während in Florenz die Pest wütet. So auch hier, auf dem Schiff. Denn mit einem Mal wird die Stille durch Worte unterbrochen: „‚Und auch das‘, sagte Marlow unvermittelt, ‚ist einmal einer der finsteren Orte der Erde gewesen.‘“

Ausbeutung und Brutalität

Damit spricht Marlow eine Geschichtstheorie an – die im Lauf des Buches noch eine wesentliche Rolle spielen, allerdings infrage gestellt werden wird (der Glaube an die beständige Entwicklung hin zum Zivilisierten) –, aber er beginnt vor allem zu erzählen: von seiner Reise als Kapitän eines Flussdampfers in Zentralafrika, beauftragt, die Handelsstationen zu verbinden und Menschen und Güter zu transportieren.

Dort wurde er Zeuge extremster Brutalitäten gegenüber den dort Ansässigen. Vor allem ein gewisser Kurtz, der offenbar ebenso charismatische wie grausame Leiter einer äußerst entfernt liegenden Station am Oberlauf des Flusses, erzwingt die Abgabe unglaublicher Mengen an Elfenbein. Marlow benennt im Lauf dieser Nacht die Ausbeutung und Plünderung der Natur ebenso deutlich wie die Brutalität gegenüber Menschen.

So ein Blick auf ein menschenverachtendes und naturausbeutendes System wäre 2024 vielleicht nicht weiter erstaunlich, wobei nicht einmal das mit Sicherheit gesagt werden kann. Doch „Herz der Finsternis“ („Heart of Darkness“) wurde erstmals 1899 im Blackwood’s Magazine in drei Teilausgaben abgedruckt und erschien 1902 als Buch. Briten und Belgier sind wie andere Länder zu dieser Zeit weltweit mit kolonialen Geschäften beschäftigt. Vor allem der belgische König Leopold II. hat, wie Urs Widmer schreibt, „den Kongo in ein Konzentrationslager verwandelt, in dem kein Recht oder nur das des skrupellosesten Freibeutertums herrschte. Die Eingeborenen wurden zu Zwangsarbeit gezwungen, gequält, gefoltert, ermordet. Tausenden wurden lebendigen Leibs die Hände abgehackt, allein weil die Compagnie ihren Beamten für jeden getöteten Rebellen eine Prämie zahlte und die Hände als Beweis forderte. Es galt nur der Profit, auf jeder Stufe der Beteiligung, und natürlich machte der skrupellose Monarch, der den Kongo zeit seines Lebens nie betrat, den größten Gewinn.“ Zwischen 1890 und 1910 starben zwischen vier und zehn Millionen Menschen im Kongo „durch Sklaverei, Mißhandlung, Aushungern oder Erschöpfung und dadurch verursachte Krankheiten“, so Conrad-Biograf Elmar Schenkel, „sie wurden erschossen, erhängt oder anders umgebracht, sie wurden verstümmelt oder verbrannt".

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