Es gibt eine neue Übersetzung des ersten Buches der Bibel, der Genesis. Sie stammt von Gerhard Begrich, dem ehemaligen Rektor des evangelischen Pastoralkollegs der Kirchenprovinz Sachsen. Im Vers 24 des zweiten Kapitels lese ich einen altbekannten Satz -ganz neu: "Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau fest verbunden sein, und sie werden sein ein Fleisch und ein Gespräch."(Gen 2,24)Meine Hebräischkenntnisse reichen nicht aus, um erklären zu können, warum der Übersetzer das Jahrhunderte lang daher-und ausgeleierte "eine Fleisch" durch das "Gespräch"
"Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort." (Joh 1,1). Als Kind fand ich diese Sätze so gravitätisch wie den Märchenkönig. Feierlich schritten sie daher, umhüllt von weiten weißgoldenen Mänteln aus Autorität. Eher so wie katholisch. Dass ich nichts verstand, störte mich nicht groß. Irgendwie wird das schon stimmen mit dem Wort und Gott und dem Anfang. Obwohl man mir andererseits erzählt hatte, Gott habe die Menschen im Paradies eigenhändig hergestellt, also nicht mit Wörtern, sondern mit den Händen. Hat Gott Hände? Na klar, oder egal
Gäbe es keine Synagogen, Kirchen, Moscheen, gäbe es keine Tempel, Schreine, Kraftorte, heilige Haine , wir müssten sie erfinden. Was müssten wir erfinden? - Orte und Zeiten müssten wir erfinden, an und zu denen Menschen gemeinsam über dem Wissen ausruhen, dass sie sich nicht selbst hergestellt haben. Dass es Vorfahren, Mütter und Väter, Onkel und Tanten, sorgende Gemeinwesen, dass es Traditionen und Moralen waren, die ihnen den Weg ins Erwachsensein geebnet haben. Dass all dies eingebettet ist in ein großes Ganzes, das man "Natur", Kosmos","Schöpfung" oder sonstwie nennen kann: etwas
Kaum ein Fremdwort ist im Deutschen so geläufig wie das "Interesse": Wenn zwei "sich füreinander interessieren", dann ist die Liebe nicht mehr weit. "Interessengruppen" finden sich zusammen, um gemeinsame Ziele zu verfolgen, Staaten haben mehr oder weniger legitime "Sicherheitsinteressen", und "interessanterweise" bedeutet "interest" im Englischen auch noch "Zins". Was ist das für ein eigenartig multifunktionales Wort, das kaum noch jemand als fremd empfindet, obwohl es eindeutig lateinisch ist?Es handelt sich um ein Kompositum aus der Präposition "inter" und dem Verb "esse"."Inter"
Als wir vor einigen Jahren - bei mir sind es mittlerweile sechs - die Aufgabe übernahmen, als "interreligiöses Quartett“ reihum Kolumnen für die FURCHE zu verfassen, bekamen Mouhanad Khorchide, Walter Homolka, Rainer Bucher und ich von der Redaktion eine Vorgabe: Wir sollten uns aufeinander beziehen, und zwar nach einem bestimmten Schema: Jeweils einer der Herren oder ich sollte ein Thema setzen, das dann von den drei anderen in den folgenden Nummern kommentiert und schließlich von der Initiantin "abgeschlossen“ wurde. Dann kam das nächste Thema dran, und so weiter.Vor einiger Zeit
S eit einiger Zeit bin ich mit Mouhanad Khorchide auf Facebook befreundet. Und ich bin "Fan“ des Zentrums für Islamische Theologie in Münster, wo er seit 2010 lehrt. Die Verbindung über Socialmedia macht es mir leicht, mich gelegentlich ins Bild zu setzen, was im "ZIT“ gerade los ist: Dafür betrete ich einfach den virtuellen Raum nebenan und lese die Postings und Kommentare: Da wird ein neues Buch an der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Delegationen aus Berlin, Wien oder Ankara treffen ein und nehmen an Seminaren teil. Auf Fotos zum Semesterbeginn sehe ich Hörsäle, in denen viele
Am 4. Oktober wurde in Bern die "Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen“ eingereicht. Es ist uns Initiantinnen und Initianten mit viel phantasievoller Hilfe gelungen, innerhalb von 18 Monaten die notwendigen 100.000 Unterschriften zu sammeln. In der Schweiz wird es also in einigen Jahren eine Abstimmung darüber geben, ob die Existenz aller im Land gesichert werden soll, ohne disziplinierende Auflagen.Die vielen Gespräche, die ich im Zuge der Unterschriftensammlung mit Vielen auf der Straße geführt habe, waren mir viel wert. Es ging meistens um sehr Grundsätzliches: Was
Welcher Staat Israel?Dies wird wohl eine leicht verdrehte Kolumne werden, denn es ist Nacht, und ich befinde mich über der Sahara. Nach drei Wochen Kinshasa habe ich zwar durchaus Lust auf nichtkongolesische Probleme. Aber die Frage "Welcher Staat Israel?“ will sich partout nicht in die Diskurslinien der vergangenen Tage fügen:Meine kongolesischen Freundinnen und Freunde, Leute, die nicht zu den neureichen Diamanten- oder Coltanhändlern gehören, wünschen sich eine verlässliche Strom- und Wasserversorgung, schlaglocharme Straßen, öffentlichen Verkehr, ein Bildungssystem, das den Namen
Über Monotheismus hinausVor dem 11. September 2001 saß auf Podien zum interreligiösen Dialog zuweilen eine Buddhistin oder sogar ein Hinduist. Viele Leute durften aber schon vor 9/11 nicht mitreden: Japanerinnen zum Beispiel, die sich gleichzeitig dem Schintoismus, dem Buddhismus und dem Christentum zugehörig fühlen, oder Menschen, die der Anthropologe "Animisten“ nennt, oder Europäerinnen, die zwar noch nicht aus ihrer Kirche ausgetreten sind, ihr Vertrauen aber längst in Kristalle oder Sternkonstellationen setzen und Wegleitung "im Universum bestellen“. Auch unser
Karl Barth, ein Chefprotestant, war der Auffassung, christlicher Glaube sei keine Religion. Wenn keine Religion, was dann? Nach Barth ist christlicher Glaube das radikale Eingeständnis der eigenen Geschöpflichkeit und damit der Unüberbrückbarkeit einer unendlichen Differenz: zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre. Und dann: das immer neu dankbare Staunen angesichts der nicht versteh- und darstellbaren, dennoch geschehenen Offenbarung der Barmherzigkeit des Ich bin da (Ex 3,14) in Jesus Christus .Warum keine Religion? Weil jede Religion sich anmaßt, GOTT, das schlechthin
Als Schülerin betete ich vor der Mathematik-Klausur, Gott möge mir beistehen und, wenn möglich, eine gute Note bescheren. Schon damals war mir bewusst, dass nach gängiger schulischer Selektionslogik nie die ganze Klasse gute Noten bekommt, ich also Gott gegen meine Mitschülerinnen und Leidensgenossen in Anspruch nahm. Ich betete trotzdem für meinen persönlichen Erfolg. Es tat mir irgendwie gut.Es folgten Jahre beißenden Spotts gegen fromme Heuchler, die sonntags vom UMFASSENDEN EINEN HERRN säuseln und werktags mit einem archaischen Stammesgott hantieren.Heute bete ich, wenn ich ins
Die Bibel ist kein Buch, sondern eine Bibliothek, in der vieles Platz hat. Allzu vieles. Auch in der protestantischen Großfamilie gibt es Chauvinsten und Teufelsaustreiberinnen, Royalisten und Theologinnen, die Homophilie unter Strafe stellen wollen. Dass der Protestant Anders Breivik geisteskrank ist, konnte bisher nicht bewiesen werden. Und was würde ein psychiatrisches Gutachten bedeuten? Letztlich nicht mehr als eine weitere Stimme im Konzert der revidierbaren Meinungen. Dass die biblische Tradition automatisch einmünden möge in all das, was mir lieb und wert ist, in "Gerechtigkeit,
Wie fühlt es sich an, zu einer religiösen Gruppierung zu gehören, die nicht selbstverständlich vom Staat anerkannt und gefördert wird? Ich weiß es nicht. Aufgewachsen bin ich in den evangelischen Landeskirchen von Baden und Württemberg. Wer damals in den Sechziger- und Siebzigerjahren im südwestlichen deutschen Bundesland die Kirchensteuern wie einzog, wer für die Gehälter der Religionslehrerinnen und die Erhaltung der kirchlichen Gebäude zuständig war, interessierte mich nicht wirklich. Es war klar: Am Sonntag läuten mitten im Dorf die Glocken, dann ist Gottesdienst, und
Halleluja aus allen Rohren. Alle zwei Jahre wieder fahre ich an einem frühsommerlichen Nachmittag im Hauptbahnhof einer deutschen Großstadt ein: Es ist Kirchentag! Und es nervt: Ältere Knaben in Schafwollgestrick tragen tragische Plakate, Schulklassen lärmen ins Freizeitvergnügen, Isomatte, Gitarre und Flirtlust im Gepäck. Eine trommelt. Die dunkelblaugestreifte Dame im nächsten Abteil ist deutlich als Kirchenprofi zu erkennen: ihr fröhlich sein wollendes Lächeln wirkt so angestrengt wie meines sich anfühlt. Ein Grüppchen diskutiert lautstark über die Theologie des Atomausstiegs.
"Gott liebt uns bedingungslos.“ Wie oft habe ich diese Worte schon von einer Kanzel herab sagen hören oder selbst gesagt!Was bedeutet der zentrale Glaubenssatz meiner Tradition in einer von den Regeln des Kapitalismus durchdrungenen Welt? Wenigstens Gott liebt uns bedingungslos, damit wir den Druck der allgegenwärtigen Verwertungslogik besser aushalten? Gott liebt uns bedingungslos, unter der Bedingung tätiger Kirchentreue? Gott liebt uns bedingungslos - und diese Liebe sollen wir weitergeben, indem wir, zum Beispiel, mit einem bedingungslosen Grundeinkommen dem ebenso gnadenlosen wie
Geburt und Geboren seinFromme Menschen haben schon immer gewusst, dass wir alle abhängig sind. Dadurch unterscheiden sie sich von den autonomieversessenen Philosophen der europäischen Aufklärung. Von wem oder was aber hängen wir ab? Wer ernsthaft im Sinn hat, aus den diversen Krisen unserer Gegenwart einen Ausweg zu finden, sollte über diese Frage nachdenken.Die gängige Theologie sagt, wir seien von dem abhängig, der uns geschaffen hat: vom Herrn und Vater im Himmel. Bin ich aber nicht zuallererst von Luft und Wasser abhängig, von Nahrung, Sprache, Tradition, Liebe, vom vielfältigen
Wer in theologischen Wörterbüchern nach dem Stichwort "Geburt“ sucht, findet nahezu nichts. In der Theologischen Realenzyklopädie kann ich 59 Seiten zum Thema "Tod“ lesen, aber keine Zeile über die Geburt. In der Ausgabe 1986 des Lexikons Die Religion in Geschichte und Gegenwart finde ich diesen Satz: "Die Geburt ist ... vielleicht am meisten bei den sog. primitiven Völkern von allerlei Vorstellungen und Riten umgeben.“ Ist Weihnachten demnach primitiv? Auch das Lexikon für Theologie und Kirche ist weit davon entfernt, eine ernst zu nehmende Theologie des Geborenseins zu
Ich sitze im Zug. Wir fahren von Zürich nach Basel. Eine junge Frau telefoniert in breitestem Basler Dialekt, anscheinend mit ihrer Mutter. Sie sagt "Mami“, erzählt eifrig von einem Ausflug. Und plötzlich verstehe ich nichts mehr, kein Wort. Welche Sprache ist das? Albanisch, Kurdisch, Georgisch? Bevor ich Zeit finde, Wörter zu identifizieren, ist schon wieder Baselditsch dran.Ich beneide mehrsprachige Menschen, bewundere die Leichtigkeit, mit der sie von einem Idiom ins andere und damit, so stelle ich mir vor, von einem kulturellen Kontext in den anderen gleiten.Mehrsprachigkeiten
"Am dritten Tage auferstanden von den Toten“ heißt es im Apostolischen Glaubensbekenntnis: Versuch eines heutigen Gesprächs über einen zentralen Satz der Christ(inn)en über Jesus.Dass Ostereier heidnisch sind, wusste ich schon als Kind. Ich erinnere mich, dass meine Älteren manchmal mit ironischem Unterton sagten, sie seien halt Heiden. Dadurch habe ich zwei Dinge gelernt: zum einen, dass es Leute gibt, die verdächtig finden, was sie "Heidentum“ nennen. Und zum anderen, dass es möglich ist, sich über solche Bewertungen heiter hinwegzusetzen.Heiden und Heidinnen sind die jeweils
Vor 100 Jahren war mein Vater acht Jahre alt. Autos, Kühlschränke, Straßenbahnen und Telefonapparate waren noch eine Seltenheit. Ich glaube, mein Vater hatte alles in allem eine glückliche Kindheit. Wer erzählt uns da eigentlich dauernd, Glück sei nur mit Tiefkühltruhen, Mobiltelefonen, WLAN, Supermärkten und stündlichen Intercityzügen möglich?Fast 300 Jahre ist es her, seit Johann Sebastian Bach die Matthäus- passion komponiert hat. Er hat sie ohne Computer geschrieben, in einer wahrscheinlich nicht besonders behaglich geheizten Wohnung. Es gab noch keine Wasserklosetts, keinen
Nein, ich will hier nicht die fünfhundertsiebenundneunzigste Debatte über "Kreationismus oder Evolution" lostreten. Ich will einfach herausfinden, was ich empfinde, wenn ich diese Worte sage: "Ich glaube an Gott, den Schöpfer."Je älter ich werde, desto lieber mag ich den (leicht abgewandelten) ersten Satz des Apostolischen Glaubensbekenntnisses. An einen Mann, der im Garten sitzt und Tiere herstellt, denke ich dabei weniger. Obwohl ich auch den ziemlich poetisch finde. Ich denke eher an Sätze wie diese:Mein Herz ist bereit, Gott,Ich will singen und spielen.Auf, meine Seele!Wacht auf,
Schweigen, Gebet, Bibellektüre, ja sogar der vielgeschmähte Sonntagsgottesdienst - all das ist für mich lebenswichtig. Allerdings nicht, weil ich damit mir und anderen meine Frömmigkeit beweise. Sondern weil ohne die traditionellen Formen der Einkehr jedes "Engagement" zum hektischen Aktionismus zu werden droht. Im Gebet, im Schweigen und Lesen, in nachdenklicher Gemeinschaft lässt sich immer wieder erfahren: ich habe mich nicht selbst hergestellt, sondern verdanke mich Anderen. Meiner Mutter, die mich geboren hat, einem schützenden Gemeinwesen und letztlich dem unverfügbaren
Alle Menschen bis heute wurden geboren, aber nicht alle können gebären: Über den Versuch, einen angemessenen denkerischen Umgang mit unserer Anfänglichkeit zu finden. Freude, Ängste, Untersuchungen, Ideologien: Schwangerschaft und Geburt bieten eine Hochschaubahn der Gefühle. Statt neun Monaten "guter Hoffnung" sind nun regelmäßig Entscheidungen angesagt: für oder gegen pränatale Diagnostik, für oder gegen ein "sanftes" Geburtskrankenhaus, für oder gegen Kreuzstich oder Kaiserschnitt. Auch wenn das Geburtsrisiko insgesamt gesenkt werden konnte: Einfacher wurde Gebären sicher