Identität Person Kopf Psyche - © Bild: iStock / Maksim Tkachenko

Identität: Die Seifenblasen des Über-Selbst

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Der tief verwurzelte Drang nach Zugehörigkeit prägt unsere krisengeschüttelte Gegenwart. Um Fundamentalismus zu verhindern und gesund mit Identität umzugehen, bedarf es deren ständiger Relativierung. Ein Rundgang.

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Der tief verwurzelte Drang nach Zugehörigkeit prägt unsere krisengeschüttelte Gegenwart. Um Fundamentalismus zu verhindern und gesund mit Identität umzugehen, bedarf es deren ständiger Relativierung. Ein Rundgang.

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Es ist noch nicht so lange her, dass Hirnforscher herausfanden, was sich im Kern unseres „Ich“ befindet: nichts. Säuglinge sind noch ohne ein Selbst. Erst im Laufe der Entwicklung prägt sich ein Netzwerk von Nervenzellen aus, das in unserem Erleben immer wichtiger wird. Neurowissenschafter bezeichnen dieses Netzwerk (DMN) manchmal als „Orchesterdirigent“ des Gehirns. Es spielt bei der Erzeugung geistiger Konstrukte eine Rolle, in deren Zentrum die Vorstellung vom eigenen „Ich“ steht. Das Selbst wird demnach in einem rauschenden Fluss durch das Flirren und Flackern der Neuronen hervorgebracht. Das ist kein fester Grund, auf dem man sicher stehen kann. Kommt daher der existenzielle Durst, nach einem einheitlichen, kontinuierlichen, möglichst imposanten Über-Selbst zu greifen?

Identität ist eines der wichtigsten Konzepte der Psychologie und Soziologie des 20. Jahrhunderts. Wird es jetzt zum Schlüssel für das Verständnis des disruptiven 21. Jahrhunderts? Identitäre Verhärtungen prägen unsere krisengeschüttelte Gegenwart, von der Politik bis zu Kunst und Kultur. Im heurigen Superwahljahr steht vieles auf dem Spiel: Wird eine radikalisierte FPÖ in Österreich den Kanzler stellen? Welche Lehren sind aus dem Rechtsruck bei der EU-Wahl zu ziehen? Und wird Donald Trump erneut als düstere Galionsfigur einer postfaktischen Politik zum US-Präsidenten gewählt?

Rechtspopulistische Agenda

„Die rechtspopulistische Agenda dreht sich nicht um die Realität, sondern um Fragen der Identität – im Grunde ist sie eine einzige Suche nach Größe, Schutz und Bedeutung.“ Das schreibt Herbert Renz-Polster im neuen Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ (Kösel 2024). Darin fragt der deutsche Kinderarzt, wie der Aufschwung rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien entstehen konnte – und welche Rezepte es dagegen gibt. Von Berufs wegen landet er im Kinderzimmer. Denn Fragen der Identität drehen sich „genau um die Themen, die Kinder bei ihrem Aufwachsen verhandeln: Habe ich eine Stimme oder nicht? Werde ich gesehen oder nicht? Kann ich vertrauen oder lebe ich auf unsicherem Grund?“ Renz-Polster sieht das rechtspopulistische Programm als „ideales Ersatzangebot, das besonders dort wirkt, wo entsprechende Lücken aus der Kindheit verbleiben". Menschen mit solchen Mangelerfahrungen würden in ihrer Identitätssuche anfällig dafür, die Bindung zu Heimat, Nation oder Religion toxisch aufzuladen.

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