Stift Seitenstetten Naturalien Sammlung Naturgeschichte Trophäe - © Fotos: Pia Balàka

Bettina Balàka über verborgene Schätze im Stift Seitenstetten

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Die wiederentdeckten Naturaliensammlungen des Benediktinerstifts Seitenstetten im Mostviertel bergen einige Überraschungen. Ein Auszug aus dem Essayband "Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen".

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Die wiederentdeckten Naturaliensammlungen des Benediktinerstifts Seitenstetten im Mostviertel bergen einige Überraschungen. Ein Auszug aus dem Essayband "Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen".

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Jahrelang ging man an Pater Pius Zöttls ehemaligen Arbeitszimmern vorbei, als hätte sie nach seinem Tod 2011 der Respekt vor ihm versiegelt. Auch zu Lebzeiten des einstigen Direktors des Stiftsgymnasiums Seitenstetten und Lehrers für Naturgeschichte und Philosophie herrschte kein großes Interesse an diesen Räumen. Vor wenigen Jahren jedoch brach Mathias Weis, ebenfalls Biologielehrer und seit 2020 Kustos der naturhistorischen Sammlungen des Stiftes, den Bann – und schloss die Türen auf.

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So wurde eine bedeutende, in Vergessenheit geratene Teilsammlung wiederentdeckt: ein zigtausende Belege umfassendes Herbar aus dem 19. Jahrhundert. Doch damit nicht genug, inmitten desselben konnte eine weitere Sensation gehoben werden: das seit Jahrzehnten verschollene Flechtenherbar des Kremsmünsterer Stiftsarztes und Lichenologen Ignaz Sigismund Poetsch (1823–1884). Nach dessen Tod hatte das Stift Seitenstetten die über 13.000 Belege umfassende Sammlung erworben. Sie besitzt erhebliche Relevanz für die aktuelle Biodiversitätsforschung, da ein Großteil der im heutigen Österreich, Böhmen und Mähren gesammelten Flechten dort nicht mehr existiert. Verdrängt beziehungsweise ausgerottet wurden sie von Baumaßnahmen, Landwirtschaft und vor allem Luftverschmutzung – Flechten sind wichtige Bioindikatoren für die Luftqualität.

Kunstformen der Natur

Um die Sammlung der Öffentlichkeit und dem Fachpublikum zugänglich zu machen, wird sie nun von den renommierten Lichenologen Roman Türk und Franz Berger durchgearbeitet, taxonomisch auf den neuesten Stand gebracht, fotografiert und mit einem digitalen Datensatz versehen.

Während an den meisten Schulen spätestens in den 1980er Jahren alte Lehrmittel aussortiert und verkauft, verschenkt oder weggeworfen wurden, brachten es die der Erneuerungshektik enthobene klösterliche Langsamkeit, der zur Verfügung stehende Platz und die Sammelgewohnheit der Mönche mit sich, dass alles aufgehoben wurde. Das 1814 eingerichtete Stiftsgymnasium blieb stets im Haus; Forschung und Lehre befanden sich unter einem Dach. In einem langen Gang wird die hunderte von Exemplaren umfassende zoologische Sammlung aufbewahrt, die man ebenfalls zu Lehrzwecken verwendete: zahllose Vogelpräparate, Jagdtrophäen, eine Sammlung an Gläschen mit Spinnen, Gläser mit sorgfältig, ja kunstvoll eingelegten und beschrifteten Amphibien, Fischen, Einsiedlerkrebsen oder Anatomiepräparaten wie Ausschnitte der verschiedenen Kuhmägen.

Das jahrzehntelang verschollene Flechtenherbar besitzt erhebliche Relevanz für die aktuelle Biodiversitätsforschung.

Zu den Materialien, mit denen den Gymnasiasten die Biologie erklärt wurde, gehören außergewöhnliche Kostbarkeiten. Da gibt es etwa eine Sammlung an Foraminiferen-Modellen des Prager Lehrmittel- und Naturalienhändlers Václav Frič: Foraminiferen sind im Wasser lebende, überwiegend gehäusetragende Einzeller. Sie weisen eine beeindruckende Formenvielfalt auf, für den Zoologen Ernst Haeckel zählten sie zu den „Kunstformen der Natur“. Manche sehen wie Schnecken aus, andere wie Samenkapseln, Seesterne oder Blüten. Heute stehen sie nicht mehr auf dem Lehrplan der Schulen.

Ein weiterer Schatz der Lehrmittelgeschichte befindet sich in einer Art Rumpelkammer, deren Aufschrift „Laboratorium“ auf den früheren Verwendungszweck hinweist. Ein ganzer Schaukasten voller Glasmodelle von Seeanemonen aus der Werkstatt der berühmten böhmischen Glaskünstler Leopold Blaschka (1822–1895) und seinem Sohn Rudolf Blaschka (1857–1939). Wie die Blaschkas ihre komplexen Modelle fertigten, kann heute nicht mehr in allen Details nachvollzogen werden. Da sie keine Lehrlinge ausbildeten, nahmen sie ihr Wissen mit ins Grab. Rund 50 der fragilen Kunstwerke in lebensechten Farben und Formen haben hier überlebt, auch sie wurden erst kürzlich wiederentdeckt.

Die der Erneuerungshektik enthobene klösterliche Langsamkeit und die Sammelgewohnheit der Mönche brachten es mit sich, dass alles aufgehoben wurde.

Fakt

Natur und Geschichte im Stift Seitenstetten

Stift Seitenstetten Naturalien Sammlung Naturgeschichte Geweih Trophäe - © Foto: Pia Balàka
© Foto: Pia Balàka

Die naturhistorischen Sammlungen des Stiftes Seitenstetten reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück und wurden vor allem durch die große Sammlerleidenschaft der Mönche sowie als Lehrmittel für das hiesige Stiftsgymnasium angehäuft. Der älteste derzeit datierte Beleg stammt aus 1772. In den letzten Jahren konnte der Umfang und die Relevanz dieser Sammlungen nach einigen Jahrzehnten im Dornröschenschlaf wiederentdeckt werden: z.B. auch ein verborgenes Herbarium mit einem Schwerpunkt auf Flechten und Moose.

Das museumsarchitektonisch herausragende Herz der Sammlungen bilden zwei Räume aus dem Rokoko: das Mineralienkabinett und das kleinere Naturalienzimmer. Während andernorts Sammlungen, Schaukästen und -räume immer wieder voneinander getrennt wurden – und bis heute werden –, ist hier das originale Ensemble aus der Zeit um 1770 vorhanden. Das unberührte Museum ist das Äquivalent zur unberührten Natur: Wenn man es in Ruhe lässt, bleibt es am besten erhalten. Allerdings können die der Natur innewohnenden Zerfalls- und Zersetzungsprozesse konservatorische Maßnahmen notwendig machen. Auch Modernisierungen im Besucherinteresse lösen oft Museumsmobiliar und ursprüngliche Raumgestaltung auf. In Seitenstetten jedoch blieb dank des klösterlichen Abgeschottetseins das Museum eines Museums erhalten. Die Präsentation der Naturalien in eigens für sie gestalteten Räumen und Vitrinen kann hier als Gesamtkunstwerk nachvollzogen werden.

Zunächst betritt man das kleinere Naturalienzimmer, das gewissermaßen das Vorzimmer bildet. Auch heute sind die Räume noch nicht elektrifiziert; damit die Wissenschafter arbeiten können, hat man zwei starke Strahler angeschafft. Ringsum an den Wänden befinden sich die historischen Schaukästen, in denen die paläontologische Sammlung aufbewahrt ist, in der Mitte steht eine später hinzugefügte Vitrine. Rechts davon führt eine Tür in das repräsentative Kabinett mit der Mineralien- und Konchyliensammlung. Hier sind die verschließbaren Schaukästen noch prächtiger: Die alten, welligen Glasscheiben sind von kunstvoll geschnörkelten Goldumrandungen eingefasst.

Diese Räume bilden eine Zeitkapsel wie die, die man jüngst bei der Restaurierung des Stiftskirchturmes fand: Hoch oben im Turmkreuz entdeckte man ein Kupferkästchen aus dem Jahr 1862. Die Sammlungen werden gegenwärtig wissenschaftlich aufgearbeitet. Dabei wird das vergessene Museum selbst zur Fundstätte, so wurde etwa eine zum Teil über 150 Jahre alte Insektensammlung wiederentdeckt. Wie beim Flechtenherbar liegt in unserer vom Artensterben geprägten Zeit ihre Bedeutung vor allem darin, aufzuzeigen, was es einmal gab. Auch für die Erforschung der genetischen Veränderungen von Insekten durch den Einfluss der Industrialisierung wird historische Insekten-DNA gebraucht, wie etwa bei rezenten Projekten mit der Universität Wien und der Veterinärmedizinischen Universität Wien.

Haikiefer und Amphibien

In der paläontologischen Sammlung sind viele Schubladen seit Jahrzehnten nicht geöffnet worden, manche womöglich seit über 100 Jahren nicht mehr. Bisweilen stecken sie so fest, dass sie mit Seifenwasser eingerieben werden müssen, um wieder gleitfähig zu werden. Hier befinden sich drei außergewöhnlich umfangreiche und vollständige paläobotanische Sammlungen aus Nýřany (Karbon), Lunz (Trias) und Schönegg (Miozän). Nýřany (deutsch: Nürschan) liegt im heutigen Tschechien, auch Wirbeltiere wurden hier vor rund 300 Millionen Jahren in der karbonen Gaskohle konserviert. Die im seichten Wasser lebenden Spezies sind besonders für die Erforschung des Übergangs von aquatischen zu terrestrischen Lebensformen interessant.

Seitenstetten besitzt unter anderem Haikiefer und Amphibien von diesem weltberühmten Fundort. Sie sind leider von dem in der Paläontologie gefürchteten Pyrit-Zerfall betroffen: ein weißer Kristallsaum wächst auf ihnen, die Mineralien lösen sich auf. Der Kontakt mit Feuchtigkeit und Sauerstoff kann bei sulfidisierten Fossilien zu Oxidationsprozessen führen, die sie regelrecht sprengen und zerstören. Hier gilt es, schnell zu beschreiben und zu retten, was zu retten ist.

Auch anderes zerfällt. In der Mittelvitrine sichtbar sind etwa zwei 1928 gesammelte Nordseekrabben, die gewissermaßen von innen her zerbröseln: Das aus ihnen gerieselte Pulver wirkt wie ein Sinnbild für das Mahlen der Zeit.

Die Autorin ist freie Schriftstellerin. Der vorliegende Text ist ein Vorabdruck aus ihrem neuen Essayband „Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen. Eine ungeordnete Kulturgeschichte der Natur“, der am 22. August 2024 im Haymon-Verlag erscheinen wird.

Blaka - © Foto: Wikipedia / Bwag (cc by-sa 4.0)

Bettina Balàka in der FURCHE

"Wechselhafte Jahre" hieß der von Bettina Balàka herausgegebene Sammelband (Leykam, 2023), in dem Schriftstellerinnen über das Älterwerden sinnierten; die Reflexion der Wiener Schriftstellerin war in der FURCHE zu lesen. Drei Jahre zuvor stand die Welt unter dem Schock der Coronakrise: Worüber schreiben in einem historischen Moment, in dem die Dystopie Wirklichkeit geworden ist?, fragte Balàka 2020 im booklet der FURCHE. In unserem Navigator finden Sie auch Buchrezensionen zum erzählerischen Werk von Balàka, z.B. zu den Romanen "Die Tauben von Brünn" (Deuticke 2019) oder "Der Zauberer vom Cobenzl" (Haymon 2023).

"Wechselhafte Jahre" hieß der von Bettina Balàka herausgegebene Sammelband (Leykam, 2023), in dem Schriftstellerinnen über das Älterwerden sinnierten; die Reflexion der Wiener Schriftstellerin war in der FURCHE zu lesen. Drei Jahre zuvor stand die Welt unter dem Schock der Coronakrise: Worüber schreiben in einem historischen Moment, in dem die Dystopie Wirklichkeit geworden ist?, fragte Balàka 2020 im booklet der FURCHE. In unserem Navigator finden Sie auch Buchrezensionen zum erzählerischen Werk von Balàka, z.B. zu den Romanen "Die Tauben von Brünn" (Deuticke 2019) oder "Der Zauberer vom Cobenzl" (Haymon 2023).

Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen. Essays von Bettina Balaka - © Haymon-Verlag
© Haymon-Verlag
Buch

Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen

Essays von Bettina Balàka
Haymon-Verlag 2024
216 S., geb., € 23,50

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