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"Erst wenn's brennt, sind wir gefragt": ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch über Die Gewerkschaftskrise

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Schwer vermittelbar: Fritz Verzetnitsch, Präsident des Österreichische Gewerkschaftsbundes, über die Schwierigkeit, Gewerkschaftspolitik heute attraktiv darzustellen.

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Schwer vermittelbar: Fritz Verzetnitsch, Präsident des Österreichische Gewerkschaftsbundes, über die Schwierigkeit, Gewerkschaftspolitik heute attraktiv darzustellen.

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DIE FURCHE: Herr Präsident, die Gewerkschaften stecken europaweit in einer Krise. Warum?

Fritz Verzetnitsch: Ich glaube eher, daß man die Gewerkschaften in die Krise hineinredet. Ich kann wirklich ganz selbstbewußt sagen, wir in Österreich stecken sicherlich nicht in einer Krise, sondern eher in einem Zeitalter des Wandels. Wir haben mehr als 500.000 industrielle Arbeitsplätze weniger, die Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen nimmt weiter ab. Wir sind in eine Dienstleistungsgesellschaft übergegangen. Das verändert alles, völlig neue Berufsfelder entstehen. Einige Berufe sind heute bereits in Ansätzen erkennbar, wie die Tele-Heimarbeit. Im Zug dieser Veränderung und Verunsicherung sind natürlich auch die Gewerkschaften gefordert. Die Gruppeninteressen sind vielfältiger geworden. Dennoch bleibt das Gesamtinteresse da, nämlich die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Interessenvertretung der Arbeitnehmer zu machen.

DIE FURCHE: Sie kämpfen mit den gleichen Problemen wie die anderen Großorganisationen auch Mitgliederschwund Desinteresse, mangelnde Akzeptanz...

Verzetnitsch: Das Problem ist, daß Gewerkschaftserfolge immer mehr als selbstverständlich hingenommen werden. Ein Beispiel: Wir verändern etwa jedes Jahr 1.000 Milliarden an Lohnsummen. Das wird einfach zur Kenntnis genommen, kaum jemand macht sich Gedanken, wie das zustande kommt. Durch die Rationalisierung der Verhandlungen entsteht beim Publikum der Eindruck, das sei alles selbstverständlich und passiert einfach so. Sollen wir jetzt einen Streik inszenieren, damit das bemerkt wird?

DIE FURCHE: Sie könnten ja auch sagen, in Zukunft profitieren von unseren Tarifverhandlungen nur mehr die Mitglieder. Das würde die Leute viel mehr bei der Stange halten.

Verzetnitsch: Was heißt, die Leute bei der Stange halten? Für mich ist das ein Reizwort. Wir sind ja nicht ein Dienstleistungsunternehmen, wo man oben irgendeinen Beitrag hineinwirft und unten kommt die gewünschte Leistung heraus. Ich glaube, daß die Gewerkschaften mehr sind. Sie bedeuten eine emotionelle Bindung.

DIE FURCHE: Sicher. Aber Gewerkschafter vertreten in der Regel dabei immer eine bestimmte ideologische Position, und das schreckt heutzutage viele ab.

Verzetnitsch: Nehmen Sie das Beispiel Arbeitslosigkeit. Dieses Problem läßt sich nur durch die Schaffung von Beschäftigung lösen. Beschäftigung kann man aber mit unterschiedlichen Methoden erreichen, zum Beispiel mit Arbeitszeitverkürzung. Womit wir dann wieder beim Thema Ideologie sind. Natürlich ist es eine Ideologie, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu bringen. Aber da ist immer ein Wechselspiel. Die einen verlangen: Die Gewerkschaft soll klar und deutlich sagen, wofür sie steht. Die anderen beklagen sich und werfen uns Ideologie vor. Unsere Politik klar zu machen ist wahnsinnig schwierig, wahrscheinlich ist sie immer neu zu definieren. Es gibt kein Werbekonzept, das ewig hält. Wir müssen dem einzelnen bewußt machen: du profitierst von einer gewerkschaftlichen Organisation. Ein bloßes Dienstleistungsunternehmen kann aber nicht eine gewerkschaftliche Zielsetzung sein. Unsere Mitglieder sind nicht Servicekonsumenten.

DIE FURCHE: Präsentieren Sie sich nicht zu wenig? Greenpeace mobilisiert Hunderttausende, wenn dieser Organisation ein Anliegen wichtig ist.

Verzetnitsch: Auch wir haben uns an politischen Auseinandersetzungen beteiligt. Nehmen Sie das Budget her. So wurde im Frühjahr kritisiert, daß wir bei der Ausarbeitung des Sparpaketes I nicht dabei waren. Jetzt werden wir kritisiert, weil wir dabei waren. Im Frühjahr wurde gefordert: soziale Ausgewogenheit muß her! Jetzt kritisiert man uns, weil Sonderausgaben gestrichen werden. Sie sehen, es gibt immer das Rätselspiel der Erwartungshaltungen.

Der ÖGB ist keine Organisation, die mit Aktionismus Ziele erreicht. Ich bin überzeugt davon, daß der Österreicher gern seinen Frieden hat und von uns positive Verhandlungsergebnisse erwartet. Ob das gut ist, darüber mag man unterschiedlicher Meinung sein.

DIE FURCHE: Haben Sie die Art der Einbeziehung der Sozialpartner in die Budgetverhandlungen im nachhinein betrachtet als gut empfunden oder sagen Sie sich jetzt „Nie wieder”?

Verzetnitsch: Was die Sozialpartner betrifft, so bin ich überzeugt davon, daß es gut war. Die Arbeit der Begierungsparteien läßt sich noch nicht bewerten. Das Problem war nur, daß immer nur vom Sparen geredet wird. Damit wird aber auch jeder Veränderungswille in eine bessere Richtung unterbunden. Natürlich ist es zulässig, wichtig und notwendig, daß man über Lehrergehälter diskutiert. Aber mindestens genauso wichtig, wenn nicht noch viel mehr wichtiger wäre es doch, wenigstens ansatzweise über unsere zukünftige Arbeitswelt zu diskutieren. Diese Debatten haben früher nicht stattgefunden und finden auch jetzt nicht statt.

DIE FURCHE: Warum präsentiert sich der ÖGB nicht selbst als moderne, gestaltungsfähige Organsation, die auch Visionen hat?

Verzetnitsch: Wir sind moderner geworden! Wir halten nicht mehr nur alle vier Jahre den ÖGB-Bundeskongreß ab. Zwischendurch gibt es bereits Schwerpunktkonferenzen, Tagungen, Seminare. Wir setzen uns bundesweit mehr mit Themenschwerpunkten auseinander. Das ist eine völlig andere Art. Kürzlich hat in Linz eine Tagung stattgefunden unter dem Titel: „Ist der ÖGB noch vermittelbar?”. Ich glaube sehr wohl, daß er vermittelbar ist. Aber wir dürfen nicht in die Gefahr geraten, wie ein Sparkassenklub zu agieren nach dem Motto: für zehn Schilling gibt es dieses Ticket und für 20 Schilling jenes.

DIE FURCHE: Was ist für Sie das wichtigste Anliegen im Moment?

Verzetnitsch: Einer meiner Zielpunkte ist der gesamte Komplex Arbeitszeit. Und zwar halte ich hier Bewußtseinsbildung für besonders wichtig. Es gilt, eine Gesamtverantwortung zu stärken.

DIE FURCHE: Ein schönes Schlagwort...

Verzetnitsch: Ich weiß, das klingt wie eine Überschrift. Aber es geht wirklich auch letztendlich darum, daß man ein Klima schafft, in dem Arbeit wieder zu einem positiven gesellschaftspolitischen Thema wird. Ich glaube außerdem, daß wir herausgefordert sind, uns mehr die Veränderungen in unserer Demokratie bewußt zu machen. Das Auftauchen von neuen Zeitungen, Zeitschriften bringt auch manche Entwicklungen mit sich, die einen mündigen Bürger verlangen. Ein Beispiel dafür ist, wie der Fall „Olivia” ablief. Weiters müssen wir uns bewußter werden, daß wir über die Grenzen Österreichs hinaus aktiv sein müssen. Bei den letzten beiden ÖGB-Kongressen hat es noch stark diese schwarz-weiß-Philosophie gegeben. Hier die guten Westler, dort die bösen Ostler. Das ist vorbei. Wir können nicht sagen, jetzt errichten wir die Mauern neu, weil vielleicht aus dem Osten Menschen in unser Land kommen.

Aber warum ich die Frage der Demokratie anspreche: Ich habe schon die Sorge, daß man für alle Entscheidungen Brüssel verantwortlich machen wird. Dabei passiert dort auch nichts anderes als bei uns: Es muß eine Politik gestaltet werden, die hoffentlich mehrheitsfähig ist und den europäischen Wohlstand sichert. Ich habe aber das Gefühl, in Europa herrscht zur Zeit nur die Philosophie der Wettbewerbsfähigkeit. Das Endresultat heißt Egoismus. Nur mehr wirtschaftlich verwertbare Leistungen sind wichtig.

DIEFURCHE: Wollen Sie eine Repolitisierung der Gewerkschaften? Weg vom Servicegedanken?

VERZETNITSCH: Mir geht es darum, dass Gewerkschaftsarbeit mehr bedeutet als nur das Aushandeln von Prozenten. Ich will weniger Funktionäre auf den Zuschauerrängen sehen oder als Kommentatoren, sondern mehr als aktive Spieler.

DIEFURCHE: Solidarität funktioniert am besten, wenn es gegen einen gemeinsamen Feind geht. Wer ist heute der Feind der Gewerkschafter?

VERZETNITSCH: Den einen einzigen Feind gibt es nicht mehr. Die Feinde sind vielfältig, auch innerhalb der Arbeitnehmerschaft, etwa wenn der eine sich als Arbeiter besser vorkommt als der andere als Angestellter und umgekehrt.

DIEFURCHE: Sie müssen, ähnlich wie das Bundesheer, ohne ein äußeres Feindbild auskommen?

VERZETNITSCH: Ich lasse mich nicht gern mit dem Bundesheer vergleichen, vor allem auch nicht die Gewerkschaftsbewegung. Aber es ist schon so: Wenn es brennt, dann ist jeder froh, dass es uns gibt.

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