Martha Keil - © Foto: Till Schönwälder

Martha Keil: "Es bleibt trotzdem Antisemitismus"

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Die Judaistin und Historikerin Martha Keil ist wissenschaftliche Leiterin der neu eröffneten "Ehemaligen Synagoge" in St. Pölten. Ein Interview über alten und neuen Judenhass, Erinnerungskultur und das bevorstehende Festival "Jewish Weekends".

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Die Judaistin und Historikerin Martha Keil ist wissenschaftliche Leiterin der neu eröffneten "Ehemaligen Synagoge" in St. Pölten. Ein Interview über alten und neuen Judenhass, Erinnerungskultur und das bevorstehende Festival "Jewish Weekends".

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Nach umfassenden Renovierungs- und Adaptierungsarbeiten wurde die Ehemalige Synagoge St. Pölten im April dieses Jahres als modernes Kultur- und Ausstellungszentrum wiedereröffnet. Beim Festival "Jewish Weekends" im Rahmen der "Tangente St. Pölten" soll hier an den kommenden zwei Wochenenden die Vielfalt jüdischer Kultur und Lebensentwürfe präsentiert und gefeiert werden. Zugleich verzeichnet man auch in Österreich eine dramatische Zunahme antisemitischer Übergriffe. Martha Keil, wissenschaftliche Leiterin der Einrichtung, hat als Judaistin und Historikerin an der Universität Wien gelehrt. Im FURCHE-Interview spricht sie über die Auswirkungen des 7.Oktobers auf Jüdinnen und Juden in Österreich, die Gründe, warum hierzulande noch immer eine intensivere Aufarbeitung der eigenen Verantwortung am Holocaust Not täte - und warum sie die weltweiten Pro-Palästinenser-Proteste trotz allem für kanalisierte antisemitische Wut hält.

DIE FURCHE: Beinahe täglich hört man aktuell von Angriffen auf Jüdinnen und Juden. Sehen Sie jüdisches Leben in Österreich gefährdet?

Martha Keil: Ich sehe individuelles jüdisches Leben gefährdet, weil es einfach viel mehr Radikale gibt und anscheinend geglaubt wird, dass antisemitische Aggression mit einer „Pro-Palästina-Solidarität“ besser gerechtfertigt werden kann. Man kanalisiert diese antisemitische Wut, die man in sich hat, jetzt mit einem politischen Argument. Auch Soziale Medien, die so viel anonymes „Dreck-Geschleuder“ ermöglichen, tragen dazu das Ihre dazu bei. Also ja, da ist eine größere Gefährdung, wenn ein Mensch als jüdisch erkennbar ist. Ich habe auf dem Weg zu diesem Interview im Bus einen jungen Mann mit Schaufäden (Anm. Fäden, die an den vier Ecken des jüdischen Gebetsschals hängen) gesehen und mir gedacht: „Du bist ein richtig mutiger Bursche, gratuliere!“. Wenn ich in der Situation wäre, weiß ich nicht, ob ich mich das trauen würde.

DIE FURCHE: Wie kann man sich erklären, dass hier just mit dem 7. Oktober ein Damm gebrochen ist?

Keil: Es wird als Solidarität mit dem unterdrückten Volk der Palästinenser argumentiert. Ich verstehe, dass man für Unterdrückte protestiert, und das sind Palästinenser ohne Zweifel. Die Art und Weise, wie das passiert, zeigt aber, dass die Protestierenden mindestens auf dem einen Auge blind sind. Wo ist die Solidarität mit den entführten und vergewaltigten Frauen, mit den hingemetzelten Kindern und alten Menschen? Wer so etwas als Widerstand bezeichnet, entlarvt sich entweder als hasserfüllter Antisemit oder er verkennt die Lage vollkommen. Aber ich glaube, da steckt doch leider hasserfüllter Antisemitismus dahinter. Und der wird immer salonfähiger. Natürlich werden die Menschen in Gaza in einer entsetzlichen Lage gehalten, aber wer ist dafür verantwortlich? Wer stellt sie auf die Dächer als Schutzschilder und wer steckt sie in den Tunnel, wer schützt sie nicht? Wer gibt Millionen für Waffen aus statt für Nahrung und Schulbildung für die eigene Bevölkerung? Hier muss man schon auf die Umstände schauen, man macht es sich zu leicht, wieder einmal Israel als Sündenbock für all diese Missstände zu definieren.

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