"Entweder alle gewinnen oder verlieren“

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Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, im Exklusivkommentar für die Furche. Wie die einzig demokratisch gewählte EU-Institution sich wieder mehr Repekt verschaffen will.

Zum ersten Mal seit ihrer Gründung ist das Scheitern der Europäischen Union ein realistisches Szenario. Seit Monaten hetzt die Union von einem Krisengipfel zum nächsten, während im Gefolge der Wirtschaftskrise in vielen Ländern die Armut gewachsen ist. Die Arbeitslosigkeit hat gerade unter jungen Menschen dramatische Ausmaße angenommen.

Sie protestieren auf Europas Straßen gegen ein Wirtschaftssystem, in dem einige Wenige in guten Zeiten die Gewinne einstreichen und die Verluste in schlechten Zeiten der Allgemeinheit aufgebürdet werden; ein System, in dem sich der Eindruck aufdrängt, anonyme Rating-Agenturen in New York seien mächtiger als demokratisch gewählte Regierungen und Parlamente.

Diese Vertrauenskrise in die Politik und ihre Institutionen bedroht auch den Glauben an das europäische Projekt. Viele Menschen verfolgen unsere Arbeit mit Argwohn, da Entscheidungen, die uns alle betreffen, von Regierungschefs hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Das ist für mich ein Rückfall in einen lange überwunden geglaubten Zustand der europäischen Politik.

Unsere gemeinsamen Interessen

Dagegen fußt das Nachkriegs-Europa auf der nüchternen Erkenntnis, dass sich unsere Interessen nicht mehr von jenen unserer Nachbarn trennen lassen; auf der Einsicht, dass die EU eben kein Nullsummenspiel ist, in dem einer verlieren muss, damit ein anderer gewinnt. Es ist genau umgekehrt: Entweder verlieren wir alle - oder wir gewinnen alle. Die Basis für das alles ist die volle Anwendung der Gemeinschaftsmethode und der Europäischen Institutionen: Das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und der Rat, der die Mitgliedstaaten vertritt. Diese Gemeinschaftsmethode ist kein technischer Begriff sondern die Seele der Europäischen Union! Das Gemeinschaftsprojekt wurde unterminiert. Denn die Vergipfelung, die Inflation von und Fixierung auf die Treffen der Regierungschefs, schließt das einzig direkt gewählte Organ der Gemeinschaft, das Europäische Parlament, von den Entscheidungsprozessen weitgehend aus. Im Grunde werden auch die nationalen Volksvertreter zu Erfüllungsgehilfen degradiert. Sie dürfen die im Brüssler Kämmerlein getroffenen Regierungsverabredungen nur mehr durchwinken.

Nährboden für Ressentiments

Das Ergebnis einer parlamentarisch unzureichend legitimierten Politik wird von den Bürgern als Diktat aus Brüssel empfunden. Den Preis dafür bezahlt die EU als Ganzes: das ist der Nährboden für antieuropäische Ressentiments.

Meine Aufgabe als Präsident des Europäischen Parlaments sehe ich darin, mich diesem anhaltenden Trend der Fixierung auf die Gipfel der Staats- und Regierungschefs und der Renationalisierung entgegen zu stellen. Ich will dazu beitragen, das Europäische Parlament als Ort der Demokratie und der kontroversen Debatte über die Richtung der Politik in der EU sichtbarer und hörbarer zu machen.

Ich werde kein bequemer Präsident sein. Ich werde ein Präsident sein, der den Respekt der Exekutiven vor dem Parlament, wenn nötig, erstreitet, der sich anlegt, wenn die Interessen der Bürger gefährdet werden. Ein Präsident, der starke Abgeordnete vertritt, die sich für die Anliegen ihrer Bürger einsetzen! Ein Präsident der alles geben wird, das verloren gegangene Vertrauen der Menschen in den europäischen Einigungsprozess zurück zu gewinnen und wieder Begeisterung für Europa zu wecken!

Martin Schulz ist seit Mitte Jänner 2012 Präsident des Europäischen Parlaments

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