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Überwindung des Leidens

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Die Autorin, Frau Dr. Ida Cermak, hat an der Wiener Universität Germanistik und Medizin studiert und ist als Oberarzt an der psychosomatischen Abteilung der Wiener medizinischen Universitätsklinik für Psychiatrie tätig. Es geht ihr nicht um die Untersuchung der Relation zwischen Genie und körperlicher oder geistiger Krankheit (das wurde von Lange-Eichbaum in seiner in mehreren Auflagen erschienenen Patho-graphie „Genie, Irrsinn und Ruhm“ ausführlich dargestellt), sondern darum, auf welche Weise große schöpferische Menschen ihre Krankheit, ihre körperlichen Leiden erlebt und bewältigt haben.

Der Kranke hat einen Dreifrontenkrieg zu führen: es geht um die Auseinandersetzung mit dem Leiden, dem Schmerz, zweitens mit dem Partner bzw. der Umwelt und schließlich mit dem Tod. Von drei Arten ist das Verhältnis zum Leiden. Man kann es bejahen. Das taten zum Beispiel Pascal, Reinhold Schneider und der heute ein wenig vergessene deutsche Schriftsteller Heinrich Federer. Man kann es zu ignorieren versuchen; die Autorin nennt das „Ausgliederung der Krankheit“ und führt als typische Beispiele Heinrich Heine und Maxim Gorki an. Oder man kann die Krankheit in sein Leben „eingliedern“, wie dies Karl Jaspers, Christian Morgenstern oder Sigmund Freud getan haben. Bei ihnen erfolgte keine Identifikation mit der Krankheit, und der Geist blieb heil und frei.

Bereits bei der Lektüre dieser ersten Kapitel bewundert man nicht nur die literarischen Detailkenntnisse— über die medizinischen darf sich der Rezensent kein Urteil anmaßen —, sondern auch das taktvolle Verstehen der Autorin, die, mit dem gleichen Respekt vor ihren Objekten wie vor dem Leser, die ersteren nie entblößt, dem letzteren sich nie aufdrängt, sondern lediglich Beobachtungen, Erfahrungen und Meinungen anbietet. Als Beispiel: Nur wer Reinhold Schneider gut und aus der Nähe gekannt hat, wird die einfühlsame und richtige Deutung der Autorin voll zu schätzen wissen. Sein Gottesbild war wirklich das des leidenden Christus, und Leibeskrankheit war für ihn „Heimsuchung der Gnade“.

Der große Sigmund Freud, der in den Jahren 1923 bis 1939 insgesamt dreiunddreißig Operationen in der Mundhöhle über sich ergehen lassen mußte (er litt an Krebs), hatte das Wort „travailler sans raisonner“ zu seinem Wahlspruch gemacht. Kafka betrachtete die Tuberkulose, die ihn frühzeitig dahinraffte, nur als ein „Aus-den-Ufern-Treten“ der „geistigen Krankheit“, als eine Verstärkung des allgemeinen Todestriebes. Seine grenzenlose Bescheidenheit ist in dem Satz ausgedrückt: „Eben weil im Hause des Vaters viele Wohnungen sind, soll man keinen Lärm machen.“ Und er war es auch, der seiner Freundin schrieb: „Ich klage nicht.“

Im Vorgefühl des Todes ändert sich bei den Menschen oft in augenfälliger Weise das Lebenstempo: Bei dem mit 38 Jahren verstorbenen Thomas Wolfe, einem riesenhaften breitschultrigen Mann, der ein großer Esser und Trinker war, kann man das „Zeitrafferphänomen“ beobachten, bei Andre Gide, der in seinem 82. Lebensjahr allmählich verlischt, spricht die Autorin vom „Zeitlupenphänomen“, verbunden mit physischem und psychischem Appetitmangel, den die Mediziner „Annorexie“ nennen.

Daß nicht nur Kränkendes krank macht, sondern auch ungelebtes Leben, zeigt die Pathograhie Adalbert Stifters. Es ist bei ihm auch weniger die verhinderte Triebbefriedigung, sondern vielmehr das Vermeiden aller entscheidenden Auseinandersetzungen — was lebensgefährdend wirkte.

Noch viele Beispiele wären anzuführen. Doch beschränken wir uns auf zwei Autoren, die paradigmatisch für das „Gesunde“ stehen. Ernst Jünger betreibt bewußt eine Art „Diätetik der Seele“, da er weiß, daß Gesundheit verdient und erarbeitet werden muß. Und Goethe, von der Geburt an von den diversesten Krankheiten und Leiden heimgesucht, übrigens auch von hereditärer Geisteskrankheit, vor allem von Melancholie, bedroht, kommt zu dem Schluß, man müsse sich seelisch aus dem körperlichen Elend heraushalten, der Mensch müsse die Krankheit ignorieren, nur die Gesundheit verdient, remarquiert zu werden. Selbst stärksten Stimmungsschwankungen unterworfen (Zykloidie), die ihm insgesamt nur „kaum vier Wochen eigentlichen Behagens“ ermöglichten, ist er stets darauf bedacht, der Natur zu helfen und jedem Erleiden sogleich ein Tun entgegenzusetzen.

Bei der Fertigstellung des Manuskriptes oder bei der Herstellung des Buches scheint man unter Zeitdruck gestanden zu sein. Denn nur so läßt es sich erklären, daß einige Wiederholungen stehen geblieben sind. Daß Morgensterns „Kurzatmigkeit“ der Kurzform entspricht oder daß Freuds erste Operation in der Ambulanz des Allgemeinen Krankenhauses stattfand, erfährt man jeweils zweimal (S. 63 und 68, S. 72 und 75). Im übrigen ist das Buch sorgfältig geschrieben und ausgestattet.

ICH KLAGE NICHT. Begegnungen mit der Krankheit in Selbstzeugnissen schöpferischer Menschen. Von Ida Cermak. Amalthea-V erlag, 336 Seiten.

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