Die Hexe als Gamechanger

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Über die "German Angst", den Sieg, das Scheitern und die Phantasie von Brigitte Quints Landsleuten.

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Über die "German Angst", den Sieg, das Scheitern und die Phantasie von Brigitte Quints Landsleuten.

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In meiner Heimat wird viel über Fußball gesprochen. Also noch mehr als sonst. Aufgrund der EM. Da reden auch die mit, die mit Fußball nichts am Hut haben. Und oft geht es um das letzte Event vergleichbarer Art in Deutschland: die WM 2006. Das sogenannte Sommermärchen.

Der Ausdruck scheint verwirrend zu sein. Super viele glauben, Deutschland wäre 2006 Weltmeister geworden. Wenn ich dann meine, wir wären im Halbfinale gegen Italien ausgeschieden, kommt in der Sekunde die Frage: „Wieso heißt es dann Sommermärchen?“

Kristin Wardetzky, eine Märchenforscherin von der Uni in Berlin meint, dass ein Märchen die einzige poetische Form sei, in der das Böse am Ende verschwunden ist. Und zwar für immer, ohne Wiederkehr. Das anschaulichste Bildnis dafür dürfte wohl die Hexe sein, die im Ofen verbrennt. Der Grimmsche Gamechanger aus „Hänsel und Gretel“.

Während der deutschen Nachkriegszeit gab es eine hitzige Debatte über die Frage, ob die Märchen der Brüder Grimm Schuld waren an den Gräueltaten der Nazis. 1947 prüfte der britische Leutnant T. J. Leonard die Schulbücher der wilhelminischen Zeit und kam zu dem Schluss, die Grimmschen Märchen hätten einen verheerenden Einfluss auf deutsche Kinder gehabt und in ihnen eine unbewusste Neigung zur Grausamkeit erzeugt. Bis der Ruf der Brüder Grimm rehabilitiert war, dauerte es bis in die 1970er-Jahre hinein.

Auch danach galten die Deutschen weiter als eiskalte, fremdenfeindliche, berechnende und humorbefreite Zeitgenossen. Sie standen für eine kollektive Miesepetrigkeit. Die „German Angst“ hat es sogar ins Englische geschafft.

Im Sommermärchen 2006 wurden diese Vorurteile wie die Hexe im Ofen verbrannt. Das wird uns Deutschen zumindest weisgemacht. Ich dachte immer Märchen beflügeln die Phantasie. Aber bei einigen meiner Landsleute beflügelt die Phantasie das Märchen. Das Böse, das im Märchen verschwindet, verzaubert die Niederlage in einen Sieg. Sonst wäre es kein Märchen. Für einige.

Wissen Sie, was ich glaube? Hätten die Deutschen gewonnen, hätte die Hexe überlebt. Hat sie aber nicht. Weil wir glücklich gescheitert sind.

Lesen Sie auch die Quint-Essenz "Der Freudsche Wiederholungszwang" oder "Glanz und Gegenwehr".

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