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Mit Widersprüchen leben lernen

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Pietschmann führt uns hier etwas klar vor Augen, was wir weitgehend verdrängt haben: Die Naturwissenschaften bauen ihr Modell der Welt auf einer ganz bestimmten und damit notwendigerweise eingeschränkten Methode auf. Ihr Zugang ist aber eben nur eine von vielen Möglichkeiten, die Weh zu sehen. Nicht die volle Wahrheit und uns erschlossen, sondern nur Teilaspekte.

Bestimmt wird der Ansatz der Naturwissenschaften durch die Methode der Logik. Damit wird Freiheit von Widersprüchen eines der wesentlichen Merkmale dieser Art, Erkenntnisse zu verarbeiten. Widersprüchliches muß ausgeklammert oder aber das Modell so umgestaltet werden, daß der Widerspruch einer Beobachtung zum Rest des Modells überwunden wird. Hier liegt eine im Wesen der Wissenschaft begründete (onthologische) Grenze der naturwissenschaftlichen Erfahrung. „Von zwei Sätzen, von denen einer das Gegenteil des anderen aussagt, muß einer falsch sein”, ist einer der Sätze der Logik. Die Betrachtung seiner Bedeutung führt Pietschmann zu einer wichtigen Unterscheidung: Die Einhaltung der Regeln der Logik gewährleistet, daß ein Gedankengebäude mit richtigen Aussagen entsteht, mit Aussagen also, die nach bestimmten Kriterien (z. B. eben der Widerspruchsfreiheit) miteinander übereinstimmen.

Streng davon zu unterscheiden ist aber die Wahrheit einer Aussage. Sie wird davon bestimmt, ob eine Ubereinstimmung zwischen gelebter Erfahrung und dem Inhalt der Aussage vorliegt. Nun kann man sicher einwenden, daß die Naturwissenschaft zweifellos auf der Suche nach Wahrheit ist: Sie läßt schließlich eine Aussage nur dann gelten, wenn sie an Experimenten überprüft und dabei nicht widerlegt worden ist. Ist also richtig doch gleichzeitig auch wahr?

Daß beides nicht deckungsgleich gemacht werden kann, liegt an einerweiteren Forderung, die die Naturwissenschaft erhebt: Nur Meßbares in ihr Modell aufzunehmen, also Erscheinungen, die man nach allgemein beschreibbaren Verfahren erfassen kann.

Damit fällt aber bereits ein großer Teil des wahren Lebens durch den Rost. Allles, was nur der einzelne erfahren kann, was von Person zu Person unterschiedlich erlebt wird, was von der besonderen Persönlichkeit des Einzelmenschen abhängt, wird nicht erfaßt. Durch die Beschränkung auf das Meßbare ist die Naturwissenschaft methodologisch begrenzt. •

Mit diesen beiden Begrenzungen setzt sich Pietschmann ausführlich auseinander: Mit ihrer Unfähigkeit einerseits mit Widerspruch adäquat umzugehen und andererseits das Besondere an den Dingen. Erscheinungen und Personen zu erfassen.

Es ist wichtig, diesen Aspekt klar zu sehen, um der Tendenz entgegenzuwirken, aus unseren wissenschuftliehen Teileinsichten eine neue Heilslehre zu basteln. Die Versuchung, aus Wissenschaft Religionsersatz zu machen, ist nämlich groß und viele sind ihr erlegen.

Wissenschaftliche Einsicht wird absolut gesetzt und alles, was nicht in das Modell paßt, wird verdrängt, bzw. die Vertreter unkonventioneller Einsichten lächerlich gemacht. Dadurch werden weite Bereiche der Wahrheit ausgeschlossen: alles, was jenseits der oben erwähnten Grenzen liegt. Das hat zur Folge, daß persönliche Erfahrungen wie Glück. Liebe. Trauer, Freude oder Tod als nebensächlich abgetan werden oder nur soweit Berücksichtigung finden, als sie meßbare (intersubjektive) Aspekte aufweisen: also beim Tod etwa der Zeitpunkt, die Reihenfolge und Dauer der Funktionsverluste, oder bei der Freude die Veränderung des Hormonhaushaltes und des Pulsschlages.

Es bedeutet aber auch, daß alle Erscheinungen, die in sich widersprüchlich sind, in den Tabubereich geschoben werden. Gerade aber die Weisheit anderer Kulturen, insbesondere der östlichen, macht uns klar, daß die Logik im Denken des Menschen durchaus nicht unbedingt den Platz einnehmen muß. den sie in unserem Denken gewonnen hat.

Das Leben ist nämlich widersprüchlich. Es ist ein dauerndes Herstellen von Gleichgewichten zwischen scheinbar unvereinbaren Polen (zwischen Engagement und Distanz. Freiheit und Abhängigkeit, Ernst und Spiel z. B.). Widersprüche zu leugnen, heißt Leben verleugnen, darauf macht uns Pietschmann aufmerksam. Sich nur auf Logik zu verlassen, aus dem naturwissenschaftlichen Lehrgebäude eine neue Heilslehre zu machen, führt uns dazu, daß wir eine Welt errichten, aus der langsam aber sicher das Leben eliminiert wird.

Auswege? Sichergibt es keine Patentrezepte, aber es gibt Orientierungspunkte, keine primitive, eindimensionale Heilslehre, keinen „Kulturkampf” gegen die Logik. „Es gilt eine neue Einheit zu erreichen, aus der auch die Logik nicht ausgeschlossen wird, obwohl sie uns an dieser Einheit hindert. Das Unmögliche möglich machen, ist also unsere Aufgabe . . .” Wir müssen aufhören an einer einseitigen Welt zu bauen, die zu einer totalen Verdingli-chung des Menschen führt. Dies wird nur gelingen, wenn wir mit Alternativen leben lernen: „Die Alternativen Außenwelt-Innenwelt, öffentlich-privat, Logik-Dialektik, Intersubjektivi-tät-Individualität, männlich-weiblich sind nur die wichtigsten aus einer unendlichen Zahl, denen wir uns zuwenden müssen, um ihre Widersprüche zu leben.” Widersprüche lassen sich aber nicht abstrakt lösen, sie können nicht nach bestimmten Vorschriften beseitigt werden, man muß sie aufheben, im Sinne von bewahren und laufend überwinden.

Dies gelingt uns aber nur im Lebensvollzug und durch die Kraft der Liebe. Und in dieser gelebten Liebe, der Botschaft des Jesus von Nazareth, sieht der Physiker Pietschmann den Ausweg aus unseren heutigen Wirren.

Es sollte uns zu denken geben, uns, die wir doch alle - mehr oder weniger stark, mehr oder weniger bewußt - wissenschaftsgläubig sind, daß dieses Buch mit dem Hohelied der Liebe aus dem Korintherbrief schließt.

Wissenschaft wird nicht verteufelt, sondern an ihren Platz zurückverwiesen, das menschliche Leben nicht verflacht und banal begriffen, sondern in seiner Fülle ernst genommen. Nicht die Einhaltung von Patentrezepten wird als Ausweg aus der heutigen Krise angeboten. Wir alle sind aufgerufen, durch unser Leben zu ihrer Bewältigung beizutragen.

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