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Landvermessung in einem Kafka-Dorf

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Ein Besuch in dem Dorf, das Franz Kafka zu seinem Roman "Das Schloß" inspirierte. Zum 90. Geburtstag des deutsch-tschechischen Schriftstellers.

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Ein Besuch in dem Dorf, das Franz Kafka zu seinem Roman "Das Schloß" inspirierte. Zum 90. Geburtstag des deutsch-tschechischen Schriftstellers.

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Deutsch-tschechischer Schlagbaum bei Waidhaus-Rosvadov. Fünfzehn Minuten Grenzformalitäten bei den Tschechen, gut das Zweifache bei den besorgten Landsleuten. Die Fahrt verläuft ohne das kleinste Hindernis: von Pilsen immer südöstlich in Richtung Strakonice. Gute, aber leere Straßen, erstaunlicherweise noch immer von frommen Marterln, Brücken, erstaunlicherweise noch immer von den alten Nepomuk-Figuren bewacht.

Eine Klasse Zwölfjähriger wäscht im Kollektiv ihren am Dorfteich geparkten Schulbus; der Lehrer teilt die Schwämme dazu aus. Ein Acker: Soldaten helfen bei der Kartoffelernte. Ein Landarbeiter und seine Frau, mit denen ich bei kurzer Rast ins Plaudern zu kommen versuche, brechen beinahe in Tränen aus, als sie gewahr werden, daß sie sich mir nicht mitteilen können. In Pilsen funktionierte die Verständigung auf Deutsch noch spielend; hier, auf dem flachen Land, müssen eventuelle Gesprächspartner immer erst durch hilfsbereite Vermittler herangeschafft werden.

Das Schloß

Kurz bevor die Kreisstadt Strakonice erreicht ist und der Kilometerzähler einen Zuwachs von 160 anzeigt, biegt rechter Hand die Bezirksstraße nach Radomischl ab. Aber ehe ich noch recht — auf meiner russischen Autokarte — das letzte Strekkenstück vorm Ziel zu klären imstande bin, steht vor mir, unverkennbar und als ob es mir den Weg verstellen wollte, das Schloß. Schloß Osek. Gepflegt, in frisches Mattgelb getaucht, sorgfältig eingefriedet, mit akkurat gescheitelten Blumenbeeten im Park und säuberlich geharkten Kieswegen — der Kontrast zum verlotterten Äußeren des übrigen Dorfs ist auf den ersten Blick evident.

Das Tor steht offen, aber ich denke, ich sollte nichts überstürzen. Die Kette von Frustrationen, als die mir des Landvermessers K. Annäherung ans Schloß in Erinnerung ist, lähmt meinen Schritt. Nein, so einfach sollte ich es mir nicht machen. Ich widerstehe also der Versuchung meinem Ziel Hals über Kopf ins Haus zu fallen, und begebe mich zunächst ins Dorf. In das Dorf, aus dem die Kafkas kommen und von dem die Kafka-Forscher sagen, daß es dem Dichter das Modell für seinen Roman geliefert habe.

Das Dorf, in dem Großvater Jakob seine Fleischhauerei betrieb, ehe er, der letzte Jude der Gegend, 1889 auf dem hebräischen Friedhof bestattet wurde; das Dorf, aus dem Vater Hermann im Alter von 14 Jahren als Wanderhändler auszog; das Dorf endlich, das auch der Prager Galanteriewarenhändlerssohn Franz von wiederholten Besuchen bei den Verwandten, von seinen Schulferien und vom großväterlichen Begräbnis her kannte.

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