Verzeihen als Verzicht

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Der Autor Asher D. Biemann über den Akt der Vergebung.

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Der Autor Asher D. Biemann über den Akt der Vergebung.

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Hannah Arendts „Vita Activa oder Vom tätigen Leben“ gilt als einer der Schlüsseltexte der als Jüdin schreibenden und gelegentlich auch jüdisch denkenden Philosophin, die 1929 bei Martin Heidegger über den „Liebesbegriff bei Augustin“ dissertierte. „Vita Activa“ gilt auch als eines ihrer „christlichsten“ Bücher, denn es ist ein Buch, worin Liebe und Vergebung eine vortreffliche Rolle spielen. In der Tat: Dass die Liebe allein die Macht habe zu verzeihen, dies war für Arendt ein christliches Prinzip — und zugleich ein Irrtum des Christentums. Denn die Liebe, so schreibt sie, „ist ihrem Wesen nach nicht nur weltlos, sondern sogar weltzerstörend, und daher nicht nur apolitisch, sondern sogar antipolitisch — vermutlich die mächtigste aller antipolitischen Kräfte.“

Verzeihung jedoch gehört gerade in den Raum der Politik. Und hier ist es nicht Liebe, die uns die Macht gibt, das Getane als das Geschehene sein zu lassen, sondern die philía politiké, die politische Freundschaft, die sich ausdrückt im Respekt und in der Achtung vor der Person. Aus Respekt, aus Achtung und aus politischer Freundschaft dürfen wir verzeihen.
Verzeihen aber wozu? Arendt meint: Um jenen Kreislauf zu durchbrechen, den alles Handeln und Widerhandeln um uns errichtet hat, um auszubrechen aus der Kettenreaktion unserer Taten, um einander von den Folgen unserer Taten zu entbinden. In diesem Sinne ist Verzeihung ein Akt der Freiheit. Gewiss, sie kann nichts ungeschehen machen, und sie muss nichts eigentlich „vergeben“. Aber sie kann uns entbinden vom ewiggleichen Fatum der Notwendigkeit. Das Verzeihen ist ein Verzichten, und in diesem revolutionären Akt liegt für Arendt die Möglichkeit eines neuen Anfangs, der immer unberechenbar bleibt: eine Politik des Unerwarteten, aus der Neues entstehen kann.

Der Autor ist Professor für moderne jüdische Philosophie an der University of Virginia, USA.

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