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Gerechter Lohn für alle?

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Was wäre ein „gerechter Lohn”? Im Sozialhirtenbrief der Bischöfe vom Mai 1990 heißt es unter Ziffer 38: „In Österreich gibt es eine beachtliche Zahl von Menschen, deren Lohn nicht ausreicht, für sich selber und die eigene Familie einen Lebensunterhalt zu garantieren, der ein menschenwürdiges Leben im Rahmen der gesellschaftlichen Möglichkeiten erlaubt.”

Richtig! Rund400.000 Arbeitnehmer verdienen derzeit weniger als 10.000 Schilling (brutto) pro Monat, selbst wenn sie „füll time” arbeiten. Wieviele davon aber junge Leute sind, die noch bei den Eltern wohnen; wieviele Zweitverdiener sind, die zum Familieneinkommen beitragen und keinen separaten Haushalt führen; und für wieviele Leute solche Hungerlöhne nur beim Eintritt ins Erwerbsleben zutreffen beziehungsweise wieviele auf Dauer damit auskommen müssen - über all das wissen wir viel zu wenig. Über das wirkliche Ausmaß der Armut in Österreich gibt auch der jährliche Sozialbericht des zuständigen Ministeriums keinen Aufschluß.

Gleichwohl, wenn ein gerechter Lohn einen menschenwürdigen Lebensunterhalt für sich und die Familie gewährleisten soll, dann sind Löhne unter 10.000 Schilling sicherlich ungerecht. Folgt daraus unmittelbar, daß die Mindestlöhne deutlich erhöht werden müssen? Ich meine, nicht unbedingt!

Letzten Endes ist auch der Arbeitsmarkt ein „Markt”, das heißt er ist nicht unabhängig von den Gesetzen von Angebot und Nachfrage. Steigt der Lohnsatz pro Stunde kurzfristig deutlich an, so wird die Nachfrage nach Arbeitskräften gedämpft. Das bedeutet: nicht alle der erwähnten 400.000 Arbeitnehmer werden von einer deutlichen Mindestlohnerhöhung profitieren, sondern nur jene, die nach wie vor Arbeit zum erhöhten Lohn finden. Die anderen werden arbeitslos. Und es ist nicht immer besser, keinen Arbeitsplatz zu haben, als einen (sehr) schlecht bezahlten.

Am stärksten betroffen von einer Mindestlohnerhöhung auf 10.000 Schilling wären die Branchen Bekleidungserzeugung, Lederverarbeitung, Handel, Fremdenverkehr, Körperpflege (zum Beispiel Friseure) und Reinigung; und innerhalb der Branchen wird der negative Beschäftigungseffekt in den Ballungszentren schwächer sein als in den regionalen Randlagen. Wie eine Untersuchung des Wirtschaftsforschungsinstituts weiter gezeigt hat, stellt eine Anhebung der Mindestlöhne auch höhere qualitative Anforderungen an den Arbeits- und Kapitaleinsatz in den Unternehmen; für junge ungelernte Arbeitskräfte, die bisher zu niedrigen Löhnen Beschäftigung fanden, wird die Arbeitsmarktsituation schwieriger, während ältere erfahrene Arbeitnehmer eher von den höheren Mindestlöhnen profitieren.

Eine aggressive Mindestlohnpolitik beschleunigt den Strukturwandel: weg von den traditionellen Niedriglohnbranchen. In bestimmten Branchen, in bisher wirtschaftlich benachteiligten Regionen, und für gewisse Gruppen von Arbeitnehmern ist jedoch mit Beschäftigungsrückgängen zu rechnen. Das zeigt die Grenzen der Lohnpolitik auf: gerechte Löhne, das heißt solche, die für den Lebensunterhalt einer womöglich kinderreichen Familie jedenfalls ausreichen, lassen sich in einer Marktwirtschaft weder durch Kollektivvertrag noch durch Gesetz dekretieren.

Daß Familien mit Kindern und einem Gesamteinkommen unter 10.000 Schilling arm sind, wird niemand bestreiten. Aber es ist illusionär, Armut allein mit Hilfe der Lohnpolitik bekämpfen zu wollen. Gerade diejenigen, die mit den steigenden Berufsanlbrderungen in einer kapitalistischen Marktwirtschaft schon bisher schlecht zurechtkamen, werden bei tendenziell sinkender Nachfrage nach unqualifizierter Arbeit in die Schwarzarbeit oder in die Arbeitslosigkeit gedrängt. Die staatliche Sozialpolitik kann sich aus ihrer Verantwortung für diese „strukturell Armen” nicht davonstehlen.

Kurz: höhere Mindestlöhne ja, aber mit flankierenden Maßnahmen in der Sozialpolitik. Und damit diese gezielt geplant und eingesetzt werden können, sollte sich der Sozialminister auf den 800 Seiten des Sozialberichts einmal detailliert der Armutsfrage annehmen!

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