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Engel der Emigranten

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Das US-Konsulat in Marseille tat wenig für Döblin, Feuchtwanger, Golo und Heinrich Mann, Mehring, Polgar, Torberg, Wolff und viele andere Gefährdete.

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Das US-Konsulat in Marseille tat wenig für Döblin, Feuchtwanger, Golo und Heinrich Mann, Mehring, Polgar, Torberg, Wolff und viele andere Gefährdete.

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Im Juni 1940 hatte Frankreich kapituliert. Das Waffenstillstandsabkommen enthielt eine Klausel, welche die französische Regierung verpflichtete, deutsche Flüchtlinge „auf Verlangen“ auszuliefern - auch aus dem von den Deutschen nicht besetzten Gebiet. Im August traf ein junger Amerikaner in Marseille ein.

Er hatte viel Geld zur Verfügung. Amerikaner hatten es gespendet. Und er hatte eine Liste mit mehr als 200 Namen bei sich, die noch viel länger werden sollte.

Der Amerikaner hieß Varian Fry, 33 Jahre alt, Harvard-Absolvent, Redakteur verschiedener Kulturzeitschriften, seit 1935 Herausgeber von „Living Age“, einer Zeitschrift für internationale Politik. Er hatte 1935 Deutschland besucht. Er war auf dem Kurfürstendamm Augenzeuge gewesen, wie junge Nazischläger jüdische Cafes demolierten, Juden von den Stühlen rissen, einen alten Mann ins Gesicht traten.

Auf seiner Liste standen Namen wie Franz Werfel, Rudolf Hilferding, Giuseppe Modigliani — „der Bruder des Malers, wissen Sie, der die Frauen mit den ovalen Gesichtern gemalt hat“, sagte einer der französischen Nazigegner, mit denen Fry sofort nach seiner Ankunft Kontakt aufgenommen hatte, in einer der ersten Aktionsbesprechungen zu einem anderen.

Fry kam mit einem abenteuerlichen Auftrag. Auf Vorschlag von Erika Mann war ein Emergency Rescue Committee (ERC) gegründet worden. Fry sollte mit dem gesammelten Geld Menschen, die aus politischen Gründen oder wegen ihrer Geisteshaltung Verfolgt wurden, aus Europa herausschaffen, bevor sie der Gestapo in die Hände fielen. Auf der Liste standen Personen, von denen man annahm, daß sie auf der Flucht im unbesetzten Südfrankreich gelandet waren.

Fry wollte einen Monat in Frankreich bleiben und blieb über ein Jahr. Sein bereits im Herbst 1945 in New York erschienenes Buch „Surrender on De-mand“ blieb im deutschen Sprachraum über vier Jahrzehnte lang unbekannt. Es ist nicht nur ein glänzend geschriebenes, spannendes, rührendes, erschütterndes Buch. Es steht darin auch einiges, woran mancher in Amerika und Frankreich heute nicht mehr gern erinnert wird.

Fry baute mit Gespür für die Verläßlichkeit und Brauchbarkeit seiner Mitarbeiter eine Organisation auf, die sich offiziell karitativen Aufgaben widmete und — geheim - Diplomaten aller möglichen Länder echte oder fast echte Pässe abkaufte, Schleichpfade über die Pyrenäen auskundschaftete, Schiffseigner bestach und notfalls auch mit der Marseüler Unterwelt kooperierte.

Das ERC ist ein Ruhmesblatt für das liberale, humanitär gesinnte, aber keines für das offizielle Amerika. Für die Diplomaten vom Konsulat der USA war Varian Fry fast eine persona non grata. Nur Harry Bingham, Vizekonsul und Chef der Visaabteilung, erwies sich als kooperativ, wurde aber abberufen. Seinen Posten übernahm ein Mann, „dessen größtes Vergnügen es zu sein schien, autoritäre Entscheidungen zu fällen und so viele Visaanträge wie möglich abzulehnen. Von neuerer europäischer Geschichte verstand er wenig. Seine Stärke war es vielmehr, Amerika vor Flüchtlingen zu bewahren, die er allesamt für Radikale hielt.“

Fry verhandelte mit ihm über ein Visum für Largo Caballero:

„ ,Wer ist Caballero?' wollte er wissen. Ich erklärte ihm, daß Caballero während des Bürgerkrieges Ministerpräsident von Spanien gewesen war.

,Oh', antwortete der Vize-Konsul, ,ein Roter.'

Ich sagte ihm, daß Caballero sein Amt niedergelegt hatte, um nicht weiterhin mit den Kommunisten zusammenarbeiten zu müssen. ^. ftSMtiuigi

,Das interessiert mich nicht', antwortete der Vize-Konsul. ,Es ist egal, welche politische Uberzeugung er vertreten hat. Daß er überhaupt von einer politischen Richtung überzeugt ist, genügt. Wir wollen keine Agitatoren in den Vereinigten Staaten. Wir haben ohnehin schon zu viele.'“

Und nicht die Deutschen, nicht die Angst der französischen Vi-chy-Regierung vor den Deutschen, sondern vor allem das Konsulat, das seinen Paß einzog,

zwang Varian Fry, Frankreich zu verlassen.

Freilich paßte sein Rettungswerk auch vielen Franzosen nicht, manchen aus Angst vor der im Sommer 1941 auch in Südfrankreich bereits sehr präsenten Gestapo. Einer von der anderen Sorte war der Polizeichef von Marseille, „Le Capitaine de Fregate“ de Rodellec du Porzic, Marineoffizier von altem bretonischen Adel. Fry zitiert ein Gespräch mit ihm:

„ ,1m neuen Frankreich benötigen wir keine Beweise', entgegnete de Rodellec du Porzic. .Zur Zeit der Republik pflegte man zu glauben, es sei besser, hundert Kriminelle entkommen zu lassen als auch nur einen Unschuldigen zu verhaften. Damit haben wir Schluß gemacht. Wir halten es für besser, hundert Unschuldige zu verhaften als einen Kriminellen laufen zu lassen.'

.Ich sehe, daß wir sehr unterschiedliche Vorstellungen von den Menschenrechten haben.'

.Jawohl', bestätigte de Rodellec du Porzic. .Mir ist bekannt, daß Sie in den Vereinigten Staaten immer noch an die veraltete Idee der Menschenrechte glauben. Aber auch Sie werden sich irgendwann einmal unsere Auffassung zu eigen machen. Das ist lediglich eine Frage der Zeit. Wir haben erkannt, daß die Gesellschaft wichtiger ist als das Individuum. Sie werden das auch noch einsehen.'“

Schon im Gehen, fragte Varian Fry: „ .Sagen Sie mir offen, warum Sie mich so hartnäckig bekämpfen.'

,Parce que vous avez trop protege des juif s et des anti-Nazis', antwortete er. .Weil Sie Juden und Nazigegner geschützt haben.“

Fry hat nicht nur Franz Werfel davor bewahrt, dem Ungeist zum Opfer zu fallen. Es haben sich in weniger als acht Monaten über 15.000 Menschen persönlich'oder schriftlich an ihn gewendet, in 1.800 Fällen wurde entschieden, daß sie zum Aufgabenbereich des ERC gehörten, an 560 Personen wurde wöchentliche Unterstützung gezahlt, mehr als 1.000 wurden aus Frankreich herausgebracht. •

Um nur einige zu nennen: Alfred Döblin, Paul Elbogen, Lion Feuchtwanger, Leonhard Frank, Hans Habe, Annette Kolb, Golo und Heinrich Mann, Walter Mehring, Alfred Neumann, Alfred Polgar, Anna Seghers, Friedrich Torberg, Kurt Wolff, Friderike Zweig, Guido Zernatto. Die Koje, in der Walter Mehring reiste, war für Rudolf Hilferding reserviert gewesen...

Der Dank des Vaterlandes: Varian Fry pendelte nach dem Krieg von Job zu Job und starb 1967 als Lateinlehrer einer Schule. Kurz vorher hatte er noch europäische Künstler zu einer Aktion zugunsten der Flüchtlinge in aller Welt motiviert, unter ihnen Marc Chagall, der 1940 bei einer Razzia der Vichy-Behörden verhaftet wurde und dessen Freilassung Fry mit der Ankündigung erreichte, anderenfalls werde die Sache am nächsten Tag in der New York Times stehen. Auch ihn brachte das ERC in die USA.

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