Die verschleiernde Rede vom „Ukrainekrieg“

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Warum beim Angriffskrieg russlands* gegen die Ukraine sprachliche Präzision wesentlich ist – und der Aggressor in der Berichterstattung nicht ausgeblendet werden darf. Ein Gastkommentar.

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Warum beim Angriffskrieg russlands* gegen die Ukraine sprachliche Präzision wesentlich ist – und der Aggressor in der Berichterstattung nicht ausgeblendet werden darf. Ein Gastkommentar.

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In der modernen Sprachwissenschaft gehen wir von einem reziproken Zusammenwirken zwischen Sprache und Realität aus. Denn die Sprache bildet nicht nur die Realität ab, sondern gestaltet diese auch mit – und sie schafft Bewusstsein für bestimmte Vorgänge und Sachverhalte. Als gutes Beispiel können hier Wörter wie Mobbing oder Bullying dienen, die eine Sensibilität für gewalttätige Handlungen schufen, obwohl es diese Phänomene schon seit jeher gab.

Dieser Wirkung von Sprache sollten wir uns insbesondere dann bewusst sein, wenn wir neue Sachverhalte benennen. Nach dem verhüllenden Begriff Ukrainekrise, mit dem der von russland* seit 2014 gegen die Ukra­ine geführte hybride Krieg bezeichnet wurde, schien der nach dem breit angelegten russischen Angriff vom 24. Februar 2022 in Umlauf gekommene Begriff Ukrainekrieg eine Bezeichnung zu sein, die nicht nur der realen Situation entspricht, sondern auch der üblichen deutschen Wortbildung.

Denn: Das Deutsche liebt zusammengesetzte Wörter. Mark Twain hat das in seinem Essay „Die schreckliche deutsche Sprache“ als „eigentümlichste und bemerkenswerteste Erscheinungen“ bezeichnet und treffend witzig beschrieben: „Sechs oder sieben Wörter sind zu einem zusammengepackt, ohne Gelenk oder Naht. [...] Dies sind keine Wörter, das sind Prozessionen von Buchstaben.“ Als längstes Beispiel wird gern der Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän angeführt. Bei den Zusammensetzungen überwiegen die Determinativkomposita: Hier sind die einzelnen Wortbestandteile nicht gleichwertig. Vielmehr ist das Endglied ein Hauptwort, das durch das Erstglied (Bestimmungswort) näher bestimmt wird.

Ist die Ukraine schuld an der Teuerung?

Auch der Begriff Ukrainekrieg ist ein solches Kompositum. Doch wird hier ein stark negativ konnotiertes Wort (Krieg) mit jenem Land in Verbindung gebracht, welches das Opfer eines Angriffs wurde. Der Aggressor freilich wird zur Gänze ausgeblendet. In Berichten über die Auswirkungen dieses Krieges auf das alltägliche Leben (etwa in Form der Teuerung von Lebensmitteln, Gas, Strom etc.) wird so das Bild weiter verstellt. Denn alltägliche Unannehmlichkeiten werden damit unbewusst mit der Ukraine in Verbindung gebracht – während das daran schuldige Aggressorland durch Nichterwähnung verschont bleibt.

Als korrekte Bezeichnung betrachte ich deshalb russischer Angriffskrieg gegen die Ukra­ine. Seriöse Medien verwenden diese Beschreibung längst – wenn auch nicht immer konsequent. Denn um Platz zu sparen, wird nach wie vor zum Ukrainekrieg gegriffen. Dabei wäre Russlandkrieg das korrektere Kompositum: Erst dadurch würde das für alle Folgen verantwortliche Land explizit benannt und nicht nur mitgemeint. Der litauische Militärexperte Aurimas Navys hat diese Bezeichnung schon vor einem Jahr in einem Facebook-Beitrag verwendet: „Wann und wie wird der Russland-Krieg enden?“, fragte er damals.

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