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Brasilien und Argentinien fordern atomare Gleichberechtigung

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Der chronische Konflikt zwischen den Ländern, die eine „Atom-Technologie“ besitzen und Ländern, die einen Transfer dieser Technologie verlangen, hat sich bei den Reisen des venezolanischen Präsidenten Carlos Andres Perez nach Brasilien und des nordamerikanischen Außenministers Cyrus Vance in dieses Land und nach Argentinien aktualisiert.

Er zeigte sich in den UN, wo Argentinien und Peru mit weiteren sieben blockfreien Ländern eine Erklärung einbrachten, in der „das legitime Recht aller Staaten“ festgestellt wurde, „die Atomenergie zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums anzuwenden“.

Bremsend bei dieser Auseinandersetzung wirkte die von Carter nach Washington einberufene Konferenz von 50 Ländern, an der auch Argentinien, Brasilien und Mexiko teilnahmen. In ihr setzten sich zum erstenmal „Atomländer“ und „Schwellen-Länder“ zusammen, um zu einem Kompromiß über eine möglichst gefahrlose Übertragung der nuklearen Fabrikationsmethoden zu kommen. Das Treffen endete mit der Bildung von acht gemischten Arbeitsgruppen, die über ebenso viele Probleme (wie Anreicherung, Atommüll und Schnellbrüter) beraten sollten. Da das Ergebnis ihrer Verhandlungen erst in zwei Jahren vorliegen soll, ist bis dahin die Intervention des „Londoner Clubs“ gegen die lateinamerikanischen Kernkraftprojekte bis zu einem gewissen Grade neutralisiert.

Inzwischen steht fest, daß die Bildung eines „lateinamerikanischen Atom-Clubs“ gescheitert ist. Der venezolanische Präsident Perez hat auf seiner Reise nach Brasilien im Rahmen seiner Integrationsbemühungen den Plan für eine lateinamerikanische Organisation zur Entwicklung der Atomenergie vorgelegt. Er hat damit wenig Gegenliebe gefunden. Multinationale Regionalprojekte versanden in lateinamerikanischen Aktendeckeln.

In der Entwicklung der Kernenergie steht Argentinien an erster und Brasilien an zweiter Stelle. Zwischen ihnen besteht nicht die erwartete Rivalität; vielmehr sehen sie beide ihr Hauptziel (wie man übrigens auch bei der Auseinandersetzung über den deutschbrasilianischen 4,8-Milliarden-Dol-lar-Vertrag über 8 Kernkraftwerke sehen konnte) darin, den ganzen Brennstoffzyklus im Lande vollziehen zu können, um nicht dem politischen oder wirtschaftlichen Druck der Atommächte ausgesetzt zu bleiben.

Bisher ist nur ein Kernkraftwerk, das argentinische „Atucha“, in Betrieb. Bis zum Jahre 2000 sollen 15 Nuklearzentren gebaut werden, die ein Viertel des argentinischen.Energiebedarfes produzieren werden. Die argentinischen Uranvorkommen dek-ken nicht nur den eigenen Bedarf, sondern lassen auch auf Export hoffen. Im Rahmen des Kernkraftprogramms, dem die Regierung durch ein Dekret höchste Priorität eingeräumt hat, soll eine Schwerwasserfabrik in Neuquen errichtet werden. Die Technologie für sie besitzen die USA und Kanada gemeinsam. Bei seinem Besuch in Buenos Aires hat Cyrus Vance den Transfer zugesagt. Als Gegenleistung wird Argentinien den „Vertrag von Tlatelolco“ ratifizieren, durch den Lateinamerika als bisher einziges bewohntes Gebiet der Erde zur atomfreien Zone erklärt wurde. Freilich tritt dieser Vertrag erst in Kraft, wenn alle lateinamerikanischen Länder und alle Atommächte ihm beigetreten sind. Kuba, Moskau und Peking halten sich vorläufig fern, so daß die Ratifizierung für Argentinien nur relative Bedeutung hat. Argentinien und Brasilien weigern sich weiterhin, dem Atomsperrvertrag beizutreten. Sie wollen nicht etwa die Atombombe bauen, verlangen aber die Gleichberechtigung aller Staaten.

Brasilien will das erste Kernkraftwerk in Angra dos Reis demnächst in Betrieb setzen. Hierzu braucht es angereichertes Uran, dessen Lieferung es schon im Jahre 1972 mit der nordamerikanischen Firma Westinghouse vereinbart hat. Es hat auch Rohuran in Südafrika gekauft und nach den USA zur Anreicherung beordert. Aber die staatliche Genehmigung für die Lieferung wurde dauernd verzögert. Am Vorabend des Besuches von Cyrus Vance gab die nordamerikanische Regierung dann endlich grünes Licht für die Ausführung des Vertrages. Brasilien weigerte sich dem nordamerikanischen Außenminister gegenüber, den Vertrag mit der Bundesrepublik Deutschland zu ändern, ist aber bereit, zusätzliche Garantien gegen die Herstellung von Atombomben zu geben.

Die Angst vor einer lateinamerikanischen Atombombe erklärt sich in erster Linie daraus, daß man die Nachahmung des indischen Beispiels fürchtet. Niemand kann unter den heutigen Verhältnissen an die Vorbereitung eines inneramerikanischen Atomkrieges denken, aber vor größenwahnsinnigen Diktatoren ist Lateinamerika gewiß nicht gefeit. Vor allem könnten Terroristen einen atomaren Sprengsatz, auch wenn er militärisch unbrauchbar ist, zu Erpressungen mißbrauchen. Guerrilleros haben 1973 den damals in Bau befindlichen Reaktor von Atucha besetzt. Die Gefahr eines Diebstahls nuklearen Materials kann um so weniger ausgeschlossen werden, als auch die lateinamerikanischen Revolutionäre gelegentlich von Wissenschaftlern oder atomarem Hilfspersonal unterstützt werden. Doch kann man unter diesem Gesichtspunkt Lateinamerika nicht daran hindern, die Planung seines Energiepotentials dem gewünschten Wirtschaftswachstum anzupassen.

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