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Vom Einzelnen, der niedergetreten wird

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Christian Geissler beschäftigt sich in seinem Erstroman "'Anfrage" mit der Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung zu Zeiten des Nationalsozialismus und thematisiert dabei Formen des kollektiven Verharmlosens und Schönredens.

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Christian Geissler beschäftigt sich in seinem Erstroman "'Anfrage" mit der Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung zu Zeiten des Nationalsozialismus und thematisiert dabei Formen des kollektiven Verharmlosens und Schönredens.

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Ein Sammelband mit Essays über den 1928 geborenen Christian Geissler trug den Titel: „Der Radikale“. Tatsächlich passt der Begriff gut zu Geissler. Er studierte evangelische Theologie, konvertierte zum Katholizismus, um 1962 aus der Kirche auszutreten. Damit begann ein Prozess der Politisierung. 1967 trat er der illegalen KPD bei, verließ sie ein Jahr später wieder. Gemeinsam mit Gudrun Ensslin und Bernward Vesper gab er 1964 eine Anthologie mit Literatur gegen die Atombombe heraus. Zur Roten Armee Fraktion stand er lange mit kritischer Sympathie. In seiner Ostermarschrede 1961 prangerte er die als korrupt bezeichnete Haltung des gewöhnlichen Massemenschen an, der sich Rechtfertigungen für „Massenvernichtung lebendiger Menschen“ ausdenkt. Dagegen führte er den Fall von Claude R. Eatherly an, der als Major der amerikanischen Luftwaffe den Befehl zum Abwurf der ersten Atombombe gab und darüber verrückt wurde. Er rechtfertigte sich später nicht, bekannte sich schuldig und endete „in einem Irrenhaus für Kriegsveteranen“.

Mit seinem ersten Roman „Anfrage“ riskierte Geissler 1960 viel, zumal er das Schweigen der bundesrepublikanischen Gesellschaft über die Ermordung der Juden im Nationalsozialismus brach, was in Zeiten des Wirtschaftswunders als unhöflicher Akt aufgenommen wurde. Als „fünfundzwanzigjährigen Halbstarken“ und „überspannten Flegel“ diffamierte man den Verfasser in rechten Kreisen und stellte die Frage, ob er nicht des Landesverrats angeklagt werden sollte. Gleichzeitig war die Zustimmung beachtlich, in seriösen Kritiken erkannte man die Bedeutung des Romans sofort. Dass eine Ausgabe in der DDR umgehend folgte, ist keine Überraschung.

Im Mittelpunkt des Romans steht der junge Klaus Köhler, der sich nicht damit abfinden will, dass die Gesellschaft von den Verbrechen der jüngsten Geschichte nichts wissen will. Er trifft auf Personen, die sich rechtfertigen und kein Schuldbewusstsein erkennen lassen. Dass es an Einzelnen liegt, die Wunden nicht verheilen zu lassen, schrieb Geissler in einer Ausgabe des Buches von 1978, denn die sind es, „die unruhig werden, die versuchen, sich zu wehren, die aber, so oder so, schließlich niedergetreten werden“.

Geschichte wird nicht abgetan als etwas, was längst abgeschlossen ist. Geissler beobachtet ihr langes Nachwirken und wie sich Verlogenheiten zu falschen Wahrheiten, mit denen es sich bequem leben lässt, umgedeutet werden. Keine Frage, das ist ein Buch, das in unsere Zeit passt, in der Wahrheit ja auch eine verhandelbare Größe geworden ist.

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