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Wer nicht trinken will...

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„ES IST EINE AUSNAHME von der Regel, wenn ein gutgenährter Mann zum Branntweintrinker wi,.<i“. schrieb vor ziemlich genau hundert Jahren der große Chemiker Justus von Liebig. Schnapstrinken, so erklärte er, sei in den allermeisten Fällen nicht die Ursache, sondern vielmehr eine Folge der Not.

Heute ist es meistens weder das eine noch das andere. Heute trinkt man, weil man es sich leisten kann. Der Schnaps wurde zum Symbol des Wohlstandes. Deshalb spricht man auch nicht mehr von Schnaps. Man spricht von Whisky, von Cognac, von Wodka. Oder man umschreibt.

Mehr als ein Fünftel der Leute, die weniger als 1500 Schilling im Monat verdienen, trinken überhaupt keinen Alkohol.

In der Einkommensklasse derer, die 2400 bis 3600 Schilling im Monat verdienen, beträgt der Prozentsatz der Antialkoholiker ein Zehntel.

Doch dort, wo 5000 und mehr Schilling im Monat eingenommen und versteuert werden, gehört das Nicht-trinken einfach nicht mehr zum guten Ton. In dieser Gruppe lebt nur ein halbes Prozent alkoholfrei.

Anteil der Alkoholgegner an der Gesamtbevölkerung: 13 Prozent, und zwar fünf Prozent der Männer und 19 Prozent der Frauen.

Diese Statistik stammt aus Deutschland, in Österreich wurden noch keine derartigen Untersuchungen angestellt. Doch schon vor drei Jahren wurden in Österreich rund 40 Millionen Liter Bier, fast zwei Millionen Flaschen Sekt und entsprechende Mengen Wein und Spirituosen getrunken, alles in allem 1640 Lastzüge mit je 40 Waggons.

Sechs Milliarden Schilling hat das gekostet. Genug, um davon für jeden österreichischen Haushalt einen Kühlschrank anzuschaffen. Genug, um mit dem Geld, das in einem einzigen Jahr durch die Gurgel rann, eine Universität aufzubauen und einzurichten.

Kehrseite der Medaille: In einer internationalen Statistik der Todesfälle an Leberzirrhose rangiert Österreich heute hinter Frankreich und Portugal an dritter Stelle.

Auch auf einer anderen Liste sind wir unter den Spitzenreitern: In der Liste der Länder mit den meisten Alkoholikern. Der „maßvolle Trinker“ sieht hochmütig auf sie herab. Er v trachtet sie, weil sie nicht aufhören können. Er erklärt mit dem Brustton der Überzeugung, sie seien eben willensschwach.

Von ihnen soll hier die Rede sein.

„GEHEN WIR AUF EIN GLAS WEIN?“

„Ich muß nach Hause!“

„Sei nicht fad und komm!“

„Nein, danke, wirklich nicht!“

„Also, jetzt werde ich aber wirklich böse. Du kommst mit und basta.“

„Aber, wenn ich nicht will!“

„Spielverderber! Icn weiß eh, daß du nicht wieder anfangen willst mit dem Trinken, aber wegen einem Glas muß es doch nicht wieder lösgehen. Also komm!“

„Nein. Auf Wiedersehen, auf Morgen früh!“

„Fader Zipf. Pantoffelheld. Hast wohl Angst vor deiner Alten. Feigling.“

,.Schön. Aber nur ein Achtel, ist das klar?“

„Klar.“

Eine Stunde oder auch nur eine halbe Stunde später:

„So, jetzt mußt du aufhören. Komm!“

„Geh heim und laß mich in Ruh'!“

„Sei nicht unvernünftig. Komm.“

„Heimgehen sollst du. Laß mich in Ruh'. Es geht dich nichts an, was ich mache.“

,.Na schön. Also dann.“

Drei Stunden später: Ein bewußloser Mann im Rinnstein. Eine kostspielige medizinische Behandlung war womöglich umsonst.

DER ÖSTERREICHER versteht etwas vom Trinken und er ist mit Recht stolz auf das, was bei ihm wächst. Er kennt seine Weine, er weiß sie zu schätzen, aber er verachtet auch die importierten Spirituosen nicht. Er kennt die Traubensorten, die Weingebiete, die Rieden, die Lagen, er kennt sich bei den Qualitätsbezeichnungen aus, Jahreszahlen auf Flaschen erzählen auch heute noch manchem Romane, und Ausdruck wie „Blended in Scotland“ oder „Destilled und bott-led in the United Kingdom“ hat er willig in sein Vokabular aufgenommen.

Doch in einer Sache ist er von erschütternder Ahnungslosigkeit: Die Problematik des Menschen, der nicht trinken darf, ist ihm fremd. Der sonst so gemütliche Österreicher wird zum Diktator, wenn es einer wagt, ein Glas Wein auszuschlagen. Er wird zum seelischen Sadisten, wenn einer bei seiner Weigerung bleibt. Der andere hat zu trinken. Ausreden gelten nicht. Leber kaputt? Sei nicht fad! Nierenkrank? Sei nicht fad! Vom Alkoholismus geheilt, vom Arzt vor jedem weiteren Schluck Wein gewarnt? Sei kein fader Zipf, trink!

Du trinkst nicht? Dann können wir mit dir nichts anfangen. Deine Gesellschaft stört uns. In deiner Gegenwart macht das Trinken nämlich auch uns keinen Spaß.

DIE ENTWICKLUNG ZUM ALKOHOLKRANKEN vollzieht sich in drei großen Etappen. Wie mir Primarius Dr. Hans Rotter, Leiter der Fürsorge für Alkoholkranke im Gesundheitsamt der Stadt Wien, erklärte, beginnt der Leidensweg des Alkoholkranken — von Alkoholikern oder Trinkern soll man aus psychologischen Gründen lieber nicht sprechen — mit einer sogenannten Entwickluhgsphase. Man trinkt immer mehr und immer häufiger. Doch deshalb muß man noch nicht unbedingt zum Alkoholiker werden. Ob einer in Gefahr schwebt, es zu werden, erkennt man vor allem daran, warum er trinkt. Tut er es nicht lediglich deshalb, weil ihm der Wein, der Cognac oder das Bier schmeckt, sondern weil er den Alkohol braucht, weil er irgendwelche Sorgen ersäufen will, weil er mit irgendeiner sozialen oder privaten Problematik nicht fertig wird, oder gar, weil er den Alkohol, egal in welcher Menge, braucht, um arbeiten zu können, so hat ein krankhafter Entwicklungsprozeß begonnen, der nur zu leicht in der dritten Phase der Alkoholkrankheit enden kann.

Die Entwicklung der Krankheit findet in der sogenannten exzessiven Phase ihre Fortsetzung. Das ist jenes Stadium, in dem der Kranke Radau schlägt, wo man ihn, sinnlos betrunken, von der Straße aufliest...

In der dritten, der chronischen Phase, können diese auffälligen Anzeichen völlig verschwinden. Aber ein Leben ohne Alkohol ist dann vorläufig nicht mehr möglich. Die Behandlung wird unumgänglich notwendig. Der chronische Alkoholkranke trinkt, wenn er nichts anderes bekommt, notfalls manchmal sogar Haarwasser oder Brennspiritus. Erst in diesem Stadium wird auch für den Laien klar, was der Fachmann längst weiß: Der Kranke trinkt nicht, weil es ihm schmeckt, sondern weil er muß. Er trinkt, auch wenn ihm der Alkohol anfangs zu schmecken scheint, hauptsächlich um der Wirkung willen.

Wobei es sich um eine Wirkung handelt, die mit der Wirkung des Alkohols auf den gesunden Menschen in vielen Fällen sehr wenig gemeinsam hat. Für den Alkoholiker ist der Alkohol eine Droge, ein Suchtgift, ein um so gefährlicheres Rauschmittel, als man es an jeder Straßenecke kaufen kann ...

Im dritten Stadium der Krankheit tritt jener „rauschlose Gewohnheits-alkoholismus“ auf, der bei älteren Leuten bereits bei einem halben Liter Wein pro Tag mit allen Begleiterscheinungen vorhanden sein kann, denn sehr viele Alkoholiker vertragen wesentlich weniger als der Durchschnittsmensch. Der rauschlose Gewohnheitsalkoholismus hat bereits zu erschütternden Unfällen geführt. Zu Unfällen, von denen man sich hinterher nicht zu erklären vermochte, wie sie geschehen konnten.

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DIE BEHANDLUNG DAUERT JAHRE, und je später sie beginnt, desto geringer sind die Aussichten auf Heilung. Deshalb sollten sich auch Leute, die den Eindruck gewinnen, daß sie gefährdet sind, oder daß der Entwicklungsprozeß zum Alkoholiker bei ihnen begonnen hat, möglichst schnell bei der Fürsorge für Alkoholkranke vorstellen. Die Behandlung wird hauptsächlich auf psychotherapeutischer Basis durchgeführt, was durchaus nicht so unangenehm ist, wie es sich manche Leute vorstellen.

Die Umgebung muß dabei allerdings mithelfen. Die Umgebung eines jeden Menschen, der irgendwann einmal in den Klauen des Teufels Alkohol gefangen war, muß wissen, wovon seine schwer errungene Genesung abhängt: Er darf nie wieder trinken. Wer einmal süchtig war, wird den „Trinkerreflex“ nicht wieder los.

Wenn er ein gewisses Anfangsquantum Alkohol getrunken hat, kann er nicht mehr aufhören, so sehr er auch will — bis zum bitteren Ende, Ein einziger Schluck kann genügen. Selbst die Antabustablette schützt nur vor diesem verhängnisvollen ersten Schluck. Überwindet sich der Kranke und trinkt ihn doch, dann schützt ihn nicht einmal der von der Tablette erzeugte Widerwillen gegen den Alkohol vor dem Weitertrinken. Er muß. Das ist der Trinkerreflex.

„TONI, GEH HAMl“ „I kann netl“

„Toni, geh ham, sonst holt dich die Funkstreifen!“ „I kann net!“

„Zum Kuckuck, des gibts do net. Geh ham!“ „I kann net!“

„Schau, du machst dich doch fertig. Sie holen dich doch wieder!“

„I was. Aber i kann wirklich net; I muß jetzt saufen.“

Toni ist das, was die Leute einen Säufer nennen. Sein Blick ist glasig, er hat Wein verschüttet, er säuft seit Stunden, am Nebentisch zahlt gerade eine Gesellschaft ihre Zeche: Zwei Damen, zwei Herren, eineinhalb Liter Wein, zwei Runden Cognac. Es war ein beschwingter Abend. Man muß sich bald wieder treffen.

Draußen sagt einer zu seiner Begleiterin: ,,Haben Sie den Mann neben der Tür gesehen? Unappetitlich so etwas! Daß die Leute nicht wissen, wann sie aufzuhören haben ...“

MIT SEINER BEGLEITERIN steigt der Herr dann in den Wagen. Und fährt heim. Gefahr? Eineinhalb Liter Wein zu viert, zwei Runden Cognac — lächerlich!

Es gibt Statistiker, die da einstimmen: Lächerlich!

Aber in den Statistiken fallen alle Toten und Verletzten und schon gar alle jene ohne Unfall, nur zu Kontrolle angehaltenen Fahrer unter den Tisch, die weniger als die von Land zu Land verschiedenen, „stillschweigend genehmigten“ oder offiziell festgesetzten Alkoholmengen im Blut hatten.

Trotzdem ist der Bonner Gerichtsmediziner Prof. E 1 b e 1 davon überzeugt, daß manchem Autofahrer auch ein einziges Achtel Wein den Tod gebracht hat. Wenn man die offiziellen Promillegrenzen außer acht läßt und auch Fahrer einbezieht, die nur ein Stamperl oder ein Achterl getrunken haben:

Dann haben mehr als 12 Prozent aller Autofahrer Alkohol im Blut.

Dann haben 46,6 Prozent aller bei Verkehrsunfällen verletzten Personen Alkohol im Blut.

Dann haben 39 Prozent aller Verkehrstoten Alkohol im Blut.

Wer findet es angesichts dieser Feststellung übertrieben, wenn die Pan American Airways ihren Piloten strikt befehlen, 24 Stunden vor Dienstantritt keinen Tropfen Wein, Schnaps oder auch nur Bier zu sich zu nehmen? Wer dagegen handelt wird fristlos entlassen.

Doch in Grinzing stehen wieder die Autos...

Gehört nicht auch das zum Thema „Alkoholkrankheit“?

UND ES GEHÖRT DAZU, daß es in Wien bereits eine große Zahl jugendlicher Alkoholiker gibt. Und daß Alkohol im Körper des Jugendlichen besondere Verwüstungen anrichtet. Und daß der Alkoholismus der Jugendlichen, und nicht nur bei den Burschen, weiter um sich greift. Und daß immer mehr geheilte Alkoholiker rückfällig werden.

Zugegeben, ein großer Teil der Alkoholkranken — nach Professor Hoff waren es in einer statistisch erfaßten Gruppe 94 Prozent — war auf Grund ihrer seelischen oder geistigen Verfassung von Haus aus besonders gefährdet, dem Alkohol zu verfallen.

Warum sind sie keine Morphinisten geworden, warum rauchen sie nicht Marihuana, warum sind sie nicht dem Kokain verfallen, oder dem Fleroin und was es sonst noch gibt?

Nicht nur deshalb. Sondern auch weil man heute zum Trinken animiert wird, wohin man kommt. Weil ein ein-seiner lächerlichen Weigerung, ein Glaserl zu trinken, und noch ein Glaserl, die Stimmung verpatzt.

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