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Wenn die Deiche brechen

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„Warm treffen wir drei wieder zusamm'?“ „Um die siebente Stund' am Brückendamm.“ „Am Mittelpfeiler.“

„Ich lösche die Flamm'.“

„Ich mit.“

„Ich komme vom Norden her.“

„Und ich von Süden.“

„Und ich vom Meer.“ „Hei, das gibt ein Ringelreihn, und die Brücke muß in den Grund hinein.“ „Und der Zug, der in die Brücke tritt um die siebente Stund'?“

„Ei, der muß mit.“

„Muß mit.“

„Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand!''

Diese unheimliche Verschwörung belauschte der Dichter Fontane in einer stürmischen Dezembernacht des Jahres 1879 an der schottischen Küste, als die entfesselten Naturgewalten sich eben anschickten, die Eisenbahnbrücke über- den Tay oberhalb Dundee niederzureißen und samt dem darübereilenden Zug in die Fluten zu stürzen.

Die drei, das heißt: die Gezeiten der Sonne und des Mondes, vereint die gefürchtete Springflut erzeugend, und als dritter Im Bunde der ungestüme Nordwest, trafen sich wieder einmal in der Nacht des 31. Jänner in der Nordsee. Ihr Angriff hat vielerorts Tod und Verderben gebracht und vor allem Holland in tiefe Trauer versetzt.

Hinter unserem Volk liegt das Erlebnis von Szenen, die an die Sintflut des Alten Testamentes gemahnen.

„Ich glaubte das Meer zu kennen“, sagte ein alter, sturmerprobter Seemann, „diese Gewalt habe ich aber noch nicht erlebt!“

Menschen riefen um Hilfe, Kinder schrien, das Vieh brüllte, der Sturm jedoch verschlang alle Laute, alles übertönten die donnernden Elemente. Wege und Eisenbahndämme wurden im Nu wie Kinderspielzeug unter der Hand eines Riesen weggespült, Schienenstränge hingen plötzlich wie eine Schwebebahn in der Luft, Häuser, Ställe, Fabriken stürzten ein, luxuriöse Strandhotels leisteten kaum mehr Widerstand als die niedrigen Fischerhütten auch, sie verwandelten sich in jämmerliche Ruinen. „Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand!“

Ein Wegweiser zeigte noch die Route einer überschwemmten großen Verkehrsstraße an: „Nach Dordrecht und Rotterdam“ las man da inmitten der Meeresfluten, und irgendwo die Warnung: „Vorsidit! Langsam fahren!“ Sturm und Wogen spotteten dieser Vorschrift, die reißenden Wasser rasen darüber weg, schleudern Schild und Tafel mit, um sie nachher wie tändelnd an einer öden Stelle wieder aufzupflanzen ... Einige der holländischen Inseln waren wegen der“ starken Strömung überhaupt nicht zu erreichen! Menschen in Todesnot standen noch in der dritten Unheilsnacht schaudernd auf den Deichen und schauten nach Rettung aus. Sie zündeten Fackeln an und steckten sogar Heuschuppen in Brand, um die Aufmerksamkeit der Flieger, die mit Gummibooten unterwegs waren, auf sich zu lenken.

Holland erlebte in diesen Tagen eine jammervolle Tragödie, wie man sie in unserem Jahrhundert vielleicht nicht mehr für möglich hielt. Die Bilanz dieser Tage ist schaurig. Unendliches Elend hatte sich in drei Tagen auf das Land niedergesenkt.

Doch auch ein tröstliches Leuchtfeuer glänzt im dunklen Elend auf: Niehatdas holländische Volk über alle politische und religiöse Entzweiung hinweg sich so einig gefühlt als in diesen Stunden einer nationalen Katastrophe. Als sie der Hilferuf erreichte, haben alle unermüdlich geholfen in selbstlosem Einsatz, und mehr als ein edler Retter verschwand im quirlenden Gischt. Geld, Kleider, Decken, Lebensmittel, es strömt unausgesetzt den Notleidenden zu, und zwar in solchen Mengen, daß wiederholt gemeldet werden mußte, nach diesem oder jenem Gebiet vorläufig nichts mehr zu schicken, weil man des Guten zuviel hatte! Auch das Ausland blieb nicht zurück.

In diesen Tagen erlebten wir die e r sehnte neue europäische Völkergemeinschaft. Sie schuf Linderung der ersten Not. Die Folgen werden nicht so bald überwunden sein.

„Luctor et emergo.“ — „Ich ringe und tauche wieder hervor.“ So lautet der Wappenspruch Seelands, einer der schwerst mitgenommenen Provinzen. Das Wappen zeigt einen Löwen, der zur Hälfte in die Meereswogen versinkt. Er ertrinkt aber nidit, der Löwe. Unser Dichter J. v. Meurs singt in dem Gedidit „Waterland'':

„Neem Hollands boer zijn landen af, Dan houdt ie nog zijn water, Daar maalt hij toch weer land uit op, Wat vroeger of wat later,“

Auf Deutsch: „Wenn man den holländischen Bauern seiner Felder beraubt, hat er immer noch seine Gewässer, die mahlt er früh oder spät wieder trocken und gewinnt neue Ackererde.

Das Meer hat den Bauern schwer beraubt. Alles verlorene Land aber wird zurückerobert werden. Auch dieses Mal.

Maria Lichtmeß 1953.

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