Wen kümmert schon das Original?

Werbung
Werbung
Werbung

Eine moderne Wohnküche, ein Mädchenzimmer, Aktenkästen, Akrobaten, die in der Höhe ihre Künste zeigen, eine Titelfigur, die auf der Suche nach der eigenen Identität sich am Ende verdoppelt, ehe ihr Alter Ego von ihr ablässt und sie in einem Meer von Flammen untergeht. In diesem Ambiente schildert die Konwitschny-Schülerin Lotte de Beer Tschaikowskis "Die Jungfrau von Orleans". Dass es hier auch um die Liebesgeschichte von zwei Menschen aus im Krieg stehenden feindlichen Lagern geht, erfährt man so nebenbei. Nie, dass Johanna aus dem Hirtenmilieu stammt. Bei de Beer trägt ihr Vater Züge eines selbstgefälligen Landedelmanns, der, im Fauteuil sitzend, Le Monde liest und sich im Übrigen an seiner Tochter vergeht, der er ein eigenes Leben partout nicht zugestehen will.

Frankreichs König wiederum verbringt lieber Schäferstündchen mit seiner Geliebten, als sich um den Krieg zu kümmern. Der Erzbischof von Reims erscheint als lächerliche Karikatur, die Choristen parlieren zuweilen in Kostümen, wie man sie aus einer bunt zusammengewürfelten Faschingsgesellschaft kennt, mit Bezügen zur jüngeren politischen Geschichte.

Der Kampf um die weibliche Emanzipation, so will es die Regisseurin weismachen, ist das eigentliche Thema dieser vom Komponisten selbst als schwach erkannten Oper, die er später überarbeiten wollte, wozu es nicht mehr gekommen ist. Ebenso die sexuelle Befreiung, die in dieser skurrilen Szenerie (Clement &Sanôu) besonders exzessiv ausgewalzt wird, wenn nach Johannas Deflorierung durch ihren Liebhaber Lionel von Blut beschmierte weiße Stoffbahnen quer über die Bühne gezogen werden.

Was das alles mit dem auf Schiller zurückgehenden, im Original um 1430 spielenden Sujet zu tun hat? Wie hat ein prominenter deutscher Nachkriegspolitiker einmal gesagt: Was kümmert mich das Geschwätz von gestern. Eine Aufforderung an Regisseure, ein aus der Vergangenheit stammendes Libretto als Folie für heutige Gesellschaftspolitik zu nehmen, egal, wie eine solche Neudeutung zur dazu einst erdachten Musik passt?

Auch deren Realisierung entsprach bei dieser an der Stückidee vorbeischrammenden Produktion nicht dem erwarteten Theater-an-der-Wien-Standard. Rollendeckend Kristján Jóhannessons Lionel und Daniel Schmutzhards Dunois, angestrengt Lena Belkinas Johanna, unterschiedlich durchschnittlich die übrige Besetzung. Läppisch das Kinderballett Dancearts, gewohnt souverän der Arnold Schoenberg Chor. Wenig überzeugend die Theater-an-der-Wien-Debütantin und Grazer Musikchefin Oksana Lyniv. Sie versuchte die Schwächen der Partitur vornehmlich durch eine betont akkurate Lesart, bei der sie den Wiener Symphonikern mehr Lautstärke als differenzierte Klangkultur abverlangte, zu kaschieren.

Dass sich kraftvolle Dynamik und spannungsgeladenes Musizieren durchaus überzeugend verbinden lassen, demonstriert die Wiener Volksoper. Die freilich wartet mit einem Meisterwerk auf, dem "Fliegenden Holländer", knüpft damit an die frühere Wagner-Tradition dieses Hauses an. Die kann sich durchaus sehen lassen: Zwischen 1906 und 2006 gab es am Währinger Gürtel 1150 Aufführungen von elf Wagner-Opern.

Das schon von einer früheren Volksopern-Produktion ("La Wally") bekannte Leading-Team Aron Stiehl (Regie) und Frank Philipp Schlößmann hätte die Vorlage durchaus mutiger umsetzen können. Die Geschichte wird jedenfalls erzählt, selbst wenn am Ende offen bleibt, ob der Holländer wirklich erlöst wird. Aber welcher heutige Regisseur will ein solches Thema schon ernsthaft angehen?

Die Besetzung ist ordentlich, auch wenn man sich von Markus Marquardts vokaler Holländer-Darstellung mehr erwartet hätte, Stefan Cerny den Daland weniger orgelnd anlegen könnte. Meagan Miller überzeugte als höhensichere, emphatische Senta. Untadelig lösten die Choristen und das von Marc Piollet, dem einstigen Musikdirektor des Hauses, geführte, bestens auf diese Herausforderung eingestimmte Orchester ihre Aufgaben.

Johanna von Orleans Theater an der Wien, 23., 25., 27. März 2019

Der fliegende Holländer Volksoper, 22., 25., 29. März

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung