Nathan Hill

„Wellness“: Ein amerikanischer Gegenwartsroman

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„Wellness“ ist der zweite Roman des amerikanischen Schriftstellers Nathan Hill. Sein Debütroman „Geister“ wurde in über 20 Sprachen übersetzt.

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„Wellness“ ist der zweite Roman des amerikanischen Schriftstellers Nathan Hill. Sein Debütroman „Geister“ wurde in über 20 Sprachen übersetzt.

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Mit einem Knalleffekt betrat der 1975 in Iowa geborene und heute in Florida lebende Nathan Hill 2016 die literarische Bühne. Gleich sein Debütroman „The Nix“ sorgte weltweit für Aufsehen, und auch im deutschsprachigen Raum stieß er – unter dem Titel „Geister“ – auf große Resonanz. Schon damals zeigte sich, dass dieser Autor über die große, manchmal an John Irving erinnernde Gabe verfügt, die US-Gegenwartsgesellschaft scharf auszuleuchten und deren Entwicklung nicht minder eindringlich nachzuzeichnen.

Acht Jahre später legt Nathan Hill nun nach, mit „Wellness“, einem opulenten, bewusst weitschweifigen Roman, der sich auf den ersten Blick als Bilanzierung einer desillusionierten Ehe liest, sich nach und nach jedoch zu einer brillanten Analyse einer weit über bloße Partnerschaftskonflikte hinausreichenden Gegenwart ausweitet.
Jack und Elizabeth, so heißen Hills Protagonisten, die sich 1993 auf merkwürdige und anrührende Weise kennenlernen. Beide wohnen sie in wenig attraktiven Chicagoer Wohnblocks. Von den Fenstern ihrer bescheidenen Apartments aus werfen sie mit wachsender Faszination heimlich Blicke in den Alltag des anderen.

Gegensätze ziehen sich an

Dass beide ein Paar werden, scheint nahezu ausgeschlossen. Zu unterschiedlich sind ihre Herkunft, zu unterschiedlich ihr Auftreten: Jack, der aus dem ländlichen Kansas stammt, versucht als mittelloser Fotograf Fuß zu fassen, und hält es für ausgeschlossen, die schöne, ihm gegenüber lebende Frau für sich gewinnen zu können. Elizabeth, die in Chicago Psychologie studiert, entstammt, wie der Roman in ausführlichen Exkursen erläutert, einer hochangesehenen Familie aus Neuengland, deren Patriarchen es auf dubiose Weise zu viel Geld gebracht haben. Doch wie es so ist: Gegensätze ziehen sich an, und so entspinnt Nathan Hall eine zarte, bewegende Liebesgeschichte, die unweigerlich in den Hafen der Ehe mündet.

Lange freilich hält sich Nathan Hill nicht damit auf, die ersten Schritte dieser Gemeinschaft zu schildern. Ein kühner Erzählsprung lässt die Leserinnen und Leser plötzlich im Jahr 2014 landen. Zusammen sind Jack und Elizabeth noch immer, ein Sohn – Toby – komplettiert die Kleinfamilie, doch die glühende Leidenschaft der frühen Jahre ist im Alltag eines durchorganisierten Mittelstandslebens langsam verloren gegangen.

Jack ist seinen künstlerischen Ambitionen treu geblieben, macht weiter Fotoserien, die, um verstanden zu werden, eines Beipackzettels bedürfen, und hat gerade mal eine mickerige Dozentenstelle ergattert, ohne mehr als eine Handvoll Studierender für sein Werk und seine Theorien zu begeistern – was bei sich breitmachenden Evaluierungskomitees nicht gut ankommt. Elizabeth hingegen hat Karriere gemacht und eine Firma namens „Wellness“ gegründet, die sich darauf spezialisiert hat, die omnipräsenten psychischen und physischen Malaisen ihrer Zeitgenossen auf semiseriöse Weise zu heilen. Eingesetzt werden dafür „Medikamente“, die ohne nachgewiesene Wirkung sind, dennoch als Placebos Linderung verschaffen und Elizabeths Klientel sehr glücklich machen.

Nathan Hills Erzähltrick besteht darin, seinen Hauptplot in das Jahr 2014 zu verlagern. So kann er in aller Ruhe die Facetten eines gesellschaftlichen Irr- und Unsinns ausbreiten, der uns heute selbstverständlich ist, und zugleich dessen Anfänge erläutern. Das umfasst nicht nur technische Revolutionen – Jacks Vater beispielsweise wird zum begeisterten Facebooknutzer und breitet Verschwörungstheorien aus, die sein Sohn in Reposts sofort zu widerlegen versucht –, sondern auch die Stadtentwicklung Chicagos und die von bigotten Kräften gefürchtete Auflösung familiärer Strukturen. Donald Trump steht vor der Tür.

Wie sehr sich ihre Ehe geändert hat, springt Jack ins Auge, als er und seine Frau sich in dem hyperchicen, leider dubios finanzierten und von Umweltschützern angefeindeten Wohnprojekt „The Shipworks“ einkaufen wollen. Als Elizabeth bei der Planung getrennte Schlafzimmer für eine gute Sache hält, ist er wie vom Schlag getroffen und muss einsehen, dass seine Ehe unter einer „hypoaktiven Beziehungsstörung“ leidet, wie man das Abkühlen der romantischen Liebe neuerdings nennt.

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