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Digital In Arbeit

Zwänge und Anpassungen

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Mit Diktatur gesellschaftlicher Zwänge und Variationen von Formen gesellschaftlicher Anpassung könnte man das Thema des ersten Bandes von Uwe Johnsons Zeitroman „Jahrestage“. Aus dem Leben von Gesine Cressphal“ umreißen. Mit enzyklopädischer Genauigkeit, die sich in Johnsons komplizierten Sprache niederschlägt, nein, aus der eigentlich schon seine Grammatik resultiert, kundschaftet er gesellschaftliche Zustände, psychische Landschaften, Motive des Handelns aus. Eine bis in die Schilderung kleinster Details ungemein genaue Sprache, die manchmal geradezu die Atmosphäre wissenschaftlicher Exaktheit atmet, gibt wieder, was von Tag zu Tag geschieht. Oder nicht geschieht. In New Yorker Tagträumen Gesines oder in Erinnerungen des Vaters Cressphal. Alles schickt sich an, in objektivierender Manier Vietnam 1967 mit Erlebnissen vor und nach 1933 parallel zu schalten. Weltgeschehen wird relativiert auf das Maß von Cressphal. Dichtung und Wahrheit sind eins: Zeitungsnews, Statistik, Impression, Lesestoff, Erinnerungen, Gedanken der „Helden“ bei der Arbeit sind ineinander verwoben. Außenseiterund Einzelgängertum in Permanenz und doch irgendwo konservatives deutsches Modellbürgertum sucht sich zu arrangieren, mit einer Umwelt, mit der es kein Arrangement geben kann.

Es ist ein Roman der Doppeldeutigkeit, vom Titel her, in den politischskeptischen Anspielungen, hinsichtlich der Bezüge von Gegenwart und Vergangenheit, der Uberschneidung von unvereinbaren Welten wie New York und Mecklenburg, die in Verhaltensweisen einer Person — der Bankangestellten Gesine — gebunden erscheinen. Diese Cressphals suchen Erlösung, ohne erlöst werden zu können.

Johnson macht es seinem Leser so schwer wie möglich. Zwar sind die Sätze nicht mehr so quer-kompliziert wie früher und wie Fußangeln ausgelegt. Aber die psychologische Prosa-Chronik läuft kreuz und quer durch Ebenen des Privatesten, das Politisch-Öffentliches reflektiert. Das nachrichtenverbrämte Tagebuch wird zum Zeitroman, zur Diagnose einer Existenz, die als Spiegelung von öffentlichem verstanden werden muß. Nur, nach 478 Seiten fragt man sich, wohin der Roman führt? Die Antwort scheint einfach: In einen zweiten und dritten Band. Alles weitere bleibt offen.

JAHRESTAGE. Aus dem Leben von Gesine Cressphal. Von Uwe Johnson. Suhrkampj-Verlag, Frankfurt am Main. 478 Seiten, DM 25.—.

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