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Komponistin Gisella Selden-Goth über ihr Leben mit der Musik

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Die ungarische Komponistin und Musikologin Gisella Selden-Goth schrieb zwischen 1963 und 1970 immer wieder für die FURCHE. In diesem Text reflektiert sie über die Rolle der Musik in ihrem Leben und über ihren Lehrer, den ungarischen Komponisten Béla Bartók.

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Die ungarische Komponistin und Musikologin Gisella Selden-Goth schrieb zwischen 1963 und 1970 immer wieder für die FURCHE. In diesem Text reflektiert sie über die Rolle der Musik in ihrem Leben und über ihren Lehrer, den ungarischen Komponisten Béla Bartók.

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Ich bin in Ungarn geboren, in Deutschland erzogen —, soweit eine Heirat ein weibliches Wesen erziehen kann! — bin amerikanische Bürgerin und lebe in Italien. Aus solcher Mannigfaltigkeit der Umgebung ergibt sich auch meine, in meiner Heimat übrigens nicht seltene, Vielsprachigkeit.

Wenn ich auf die häufige Frage: „Wieviel Sprachen sprechen Sie eigentlich?“ — antworte: „Fünf!“ — so erfolgt, kaum vermeidbar, die Rückfrage: „Was ist die fünfte?“ — denn die vier „westlichen“ Idiome beherrscht wohl heutzutage jeder halbwegs herumgekommene Mensch. Dann antworte ich: „Ungarisch“. Es könnte ebensogut, oder noch besser, Russisch sein, oder auch Tschechisch, Griechisch, Chinesisch, oder gar Laotisch. Unser Gesichtskreis und damit auch unsere Sprachkenntnisse haben sich wesentlich erweitert, seitdem ich zum Punkte gelangte, da ich beginne, diese Blätter zu schreiben.

Also in Ungarn geboren, vor sehr, sehr vielen Jahren, fraget ein weibliches Wesen nicht, vor wievielen. Jene fünfte Sprache beherrsche ich noch heute, obwohl ich schon vor etwa 35 Jahren die Heimat verließ, in Wort und Schrift — und sogar in Radiovorträgen — perfekt. Zu großer Verwunderung meiner einstigen Landsleute, die mir hie und da in den Weg laufen.

Von meiner sogenannten Jugend ist nicht viel zu erzählen, oder vielmehr: ich habe keine Lust, auf Einzelheiten meines ersten „Zuhause“ zurückzukommen. Ich habe das Vaterhaus noch sehr, gelegentlich sogar zu deutlich in Erinnerung, aber ohne Freude an solcher. Es war ein komfortables, wohlsituiertes Vaterhaus, man hatte damals keine Dienstpersonalsorgen, es gab erstes und zweites Zimmermädchen, die Köchin mußte ihr Abwaschmädchen zur Seite haben, dafür kochte sie auch gut, sogar luxuriös.

Von Autos träumte man noch nicht, hingegen hatte jede gutbürgerliche Familie, die etwas auf ihre Dehors hielt — und weiß Gott, mein Vater hielt sehr entschieden auf solche! — ihren gemieteten Zweispänner, den Heute schon beinahe legendären „Fiaker“, mit dem die Damen in der guten Jahreszeit jeden Nachmittag unentwegt die Parkstraße des Budapester „Stadtwäldchens“ zweimal auf- und abwärtsfuhren, mit obligater Paus in einer vornehmen Konditorei.

Mir machten diese kurzen Ausflüge, die so angenehm meine von Lektionen ziemlich überlastete Tagesordnung unterbrachen, Vergnügen; es war nett, neben meiner Mutter zu sitzen, hübsch angezogen mit dem damals auch für kleine und kleinste Mädchen durchaus obligaten, alljährlich neuen Hut über den wohlfrisierten Zöpfen. Mit der Abenddämmerung wieder in der komfortablen Wohnung zurückgelangt, begann das anstrengende Einerlei mit seiner Routine aufs neue.

Das Leben im Haus wurde von einem ebenso intelligenten wie herrschsüchtigen Vater regiert, der meine schöne, stets leidende Mutter geradezu zum Schatten drückte. Er war durchaus ein „selfmade man“, hatte als kleiner Angestellter bei einem mittelmäßigen Bankhaus zu arbeiten begonnen, entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem bedeutenden Financier, dessen Scharfblick und selbständiges Denken in allen Fragen seines Faches überall bewundert wurden — in mittleren Jahren war er ein reicher Mann geworden, traute nur seinem eigenen durchaus selbständigen Urteil und ließ sich, wie es sich erwies, mit Recht, von niemandem „dreinreden“. Ein Tyrann alttestamentarischen Gepräges, der sich die Entscheidungen in allen Fragen seiner Familie wie selbstverständlich vorbehielt; der mich, seine einzige, wie er immer betonte, hochgeschätzte Tochter zur gegebenen Zeit verheiraten wollte, recht gut verheiraten, aber „gut“, wie er es verstand, nicht das Objekt seiner Absichten selbst.

So suchte er unter den bürgerlichen, natürlich unbedingt wohlhabenden Familien der Stadt einen Mann, der nicht mir, sondern ihm selbst gefiel; suchte so hingebungsvoll, daß er einmal einen jener Bewerber um meine Hand und Mitgift — und es gab deren nicht wenige! — zu einer Tete-ä-Tete-Reise nach Ägypten einlud, um ihn gründlich „auszuprobieren“, wie er wohl als Schwiegersohn zu ihm, zu seiner Familie, an seinen Tisch passen würde. Daß der junge Mann das Examen nicht bestand, war natürlich. Denn die Denkweise des, wie schon erwähnt, außerordentlich klugen, in jeder Beziehung gebildeten, charakterfesten und selbstbewußten älteren Herrn riß ihn manchmal zu dem Ausspruch hin: „Dieses Mädchen wird, nachdem ich mich so lange mit ihm unterhalten habe, an keinem Gespräch mit einem anderen Manne Gefallen finden können.“ — Er unterhielt sich mit mir so lange, bis ich es überdrüssig wurde, die alte Jungfer zu spielen — dazumal wurde dieser Stempel den Mädchen viel rascher aufgedrückt als heute — es gab noch keine „Careerwomen“! — und mir auf eigene Faust einen Mann suchte, ihn auch fand.

Er war natürlich alles eher denn ein idealer Schwiegersohn für meinen Vater; zwar aus tadellos anständiger Familie, auch von tadellosem persönlichen Ruf, gescheit und lebendig, wohl in der Lage, eine intelligente Konversation zu führen — aber, erstens, finanziell sehr, sehr bescheiden ausgestattet, und überdies in einem Beruf, jenem eines Journalisten beschäftigt, der meinem Vater durchaus unseriös und unergiebig dünkte. Nichtsdestoweniger: wir heirateten, nachdem ich mir viele laute und stumme Vorwürfe über mich ergehen lassen mußte. Zum Glück waren wir energisch genug, unser Heim nicht in der stets unerfreulichen Reibungen ausgesetzten Nachbarschaft aufzuschlagen, sondern wanderten aus — was man so damals „auswandern“ nannte —, und schlugen unser Journalistenheim in Berlin auf.

Und damit begann für mich die zweite Lebensperiode. Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her, daß ich mein selbständiges Leben als Mensch, als denkender und arbeitender Mensch, begann. Und man denke, was sich in diesem halben Jahrhundert um uns, in uns, mit uns ereignet und geändert hat!

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