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Hohe Gäste

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Der Spätsommer und der Frühherbst: das ist die schönste Zeit in Wien. Die Luft ist rein, wenn auch oft schon etwas kühl am Morgen und am Abend, die Sicht ist klar, vom Kahlenberg geht der Blick in solchen Tagen leicht bis zum Schneeberg, aber auch bis zu den Kleinen Karpaten, weit ins slowakische und ungarische Land. An solchen Tagen und unter solchem strahlenden Himmel ist die Donau wirklich blau, und die Stadt, die große Stadt, deren Konturen sonst in Dunst und Nebel schwimmen, bis zum Rande zu sehen.

Ist es ein Wunder, daß die Besucher, daß die Gaste Wiens, die ja das ganze Jahr hierherkommen, sich in diesen Wochen besonders drängen? Da folgt nicht nur ein Kongreß dem anderen, in diesen Tagen überschneiden sie sich oft vielfach. Die Protokollchefs des Bundeskanzleramtes und des Rathauses wissen nicht, wie die Empfänge alle unter Dach gebracht werden sollen, und die Reisebüros raufen um jedes freie Bett. Die Welt hat Wien wiederentdeckt, lieber ein Jahrzehnt lag es in einem vergessenen Winkel Europas, fremde Soldaten standen an seinen Grenzen und auch an den willkürlichen Grenzen, die die Machtpolitik im Inneren des Landes gezogen hatte. Das Wien des dritten Mannes, das Wien der Bombenruinen, das Wien der russischen Kommandantura lag irgendwo im Osten, jenseits schon der großen Scheidelinie Europas, und wer sich hierher verirrte — mühsam genug war es —, der kam sich fast wie ein Entdeckungsreisender vor.

Wer heute nach Wien kommt, sieht eine“ strahlende, blühende Stadt. Die Mängel, die ihr noch anhaften und über die sich der Wiener sicherlich nicht mit Unrecht beklagt, sieht der Fremde meist nicht, Gott sei Dank, wollen wir sagen, so überwältigt ist er von der wunderbaren Kulisse, die der Himmel und die Geschichte dieser Stadt geschenkt haben.

Aber vielleicht kommen unsere Gäste nicht nur wegen der landschaftlichen Schönheit und des kulturellen Reichtums unserer Stadt nach Wien?

Bestimmt aber werden sie, wenn sie Wien wieder verlassen, mehr mitnehmen als allein Bilder der Erinnerung an einen Nachmittag auf dem Kahlenberg, einen Abend beim Wein draußen am Rande der Stadt, einen Gang durch Kirchen, Paläste und Museen. Diese Bilder werden sich mit etwas anderem verbinden, was man das Fluidum dieser Stadt nennen kann und das gewoben ist wohl aus der Landschaft und der Kultur, aber auch aus den Menschen, die hier wohnen, die die Umwelt geformt hat, ebenso wie die Geschichte, aus der Lage der Stadt und dem Lebensgefühl ihrer Menschen. Diese Bilder werden sich verbinden zu dem einmaligen Phänomen dieser Stadt, die bei aller geprägter Form niemals etwas Fertiges, Erstarrtes an sich hat, die man nicht als etwas Endgültiges, Vollendetes abtun, klassifizieren und in ein Museum stellen kann, einer Stadt, die immer noch eine Frage offenhält, eine Möglichkeit frei weiß, die bei aller Sinnenfreude am Augenblick niemals die Gegenwart, ihr Glück und ihr Leid, ihren Besitz und ihre Bedrohung überwertet, die immer in Distanz zu sich und zur Zeit über die Zeit hinaus etwas zu sagen weiß, wo der Teppich des Lebens niemals abgeschlossen ist, wo nicht alle Fäden endgültig verwebt sind, sondern wo man immer an sie anknüpfen kann, zurück in die Vergangenheit, aber auch in die Zukunft.

In diesem Sinne ist Wien ebenso eine Stadt der Zukunft wie es eine Stadt der Vergangenheit ist, und wer nach Wien kommt, kann die Vergangenheit, aber auch die Zukunft suchen, er kann die Fäden zurückverfolgen, aber auch an Fäden anknüpfen, die vorwärtsführen.

Die zwei prominentesten Gäste Wiens in diesen Tagen sind sicherlich die beiden römischen Kardinäle, die zu den höchsten Würdenträgern der katholischen Kirche zählen: der Dekan des Heiligen Kollegiums, Kardinal T i s-s e r a n t und Kardinal Agagianian, Patriarch der Armenier und Prodekan der Kongregation für die Glaubensverbreitung. Kardinal Tisserant war von Mariazell, wo er in feierlicher Weise von der Basilika Besitz ergriffen hatte, zum Pax-Romana-Kongreß nach Wien gekommen. Kardinal Agagianian kommt, um anläßlich des Festes Maria Geburt bei den Mechitaristen seine armenischen Landsleute hier zu besuchen.

Diese Begründungen für den Besuch der hohen Gäste in Wien vermögen nicht alle Zeitgenossen zufriedenzustellen. Da sie mit den Erklärungen für den tatsächlichen Anlaß dieser Reisen nicht ihr Auslangen finden und da auch kaum anzunehmen ist, daß diese Besuche vornehmlicherweise den landschaftlichen Schönheiten und den historischen Reichtümern Wiens gelten, so versuchen sie, tiefere Ursachen zu erkennen, mit denen sie den nahezu gleichzeitigen Besuch der beiden römischen Kirchenfürsten erklären. Sind die beiden Kardinäle nicht wesentlich für Fragen der Ostkirche zuständig? Ist Kardinal Tisserant nicht Präfekt der ostkirchlichen Kongregation? Ist Kardinal Agagianian als Armenier, geboren auf russischem Territorium, armenischer Patriarch in Beirut, nicht der prädestinierte Fachmann des Vatikans für alle Ostfragen? Und diese beiden Kardinäle sollen nur zufällig gekommen sein zu einem der so zahlreich hier abgehaltenen internationalen Kongresse, zu einer alljährlich veranstalteten Prozession?

Für die Auguren und Sterndeuter weltpolitischen Ausmaßes, die in kosmischen Regionen leben und mit mondialen Begriffen jonglieren, mag dieser Besuch der beiden römischen Kardinäle in Wien der Anlaß sein, wieder einmal in Kombinationen zu schwelgen: von unterirdischer Fühlungnahme, von vorbereitenden Kontakten, für die gerade der Wiener Boden der geeignete Schauplatz wäre.

Wir sind weder Hellseher noch Sterndeuter, noch teilen wir die naiven Ansichten so mancher Kommentatoren in westlichen Hauptstädten, für die sich das Ringen der Welt in der Gegenwart in einfache, allzu einfache Kombinationen, wie es uns scheint, aufzulösen vermag. Oesterreich, da katholische Oesterreich, sieht in diesen Besuchen eine hohe Auszeichnung, die es dankbar zu würdigen versteht. Daß zwei der prominentesten (um dieses abgegriffene Wort zu gebrauchen) Würdenträger der Kirche in diesen Tagen Wien besuchen, ist uns Beweis, daß dieses kleine Oesterreich mit seinen 7 Millionen Menschen in den Augen des Vatikans nicht die geringste unter den Töchtern der Kirche darstellt. Wir wissen, daß die Beziehungen zwischen Staat und Kirche hier in Oesterreich noch nicht ihre endgültige klare Form gefunden haben. Mit um so größerer Dankbarkeit erfüllt es uns, daß von Seiten des Vatikans kein Schatten der Verstimmung auf dieses Oesterreich fällt, daß wir den Besuch der beiden Kardinäle als einen Beweis der Sympathie Roms für Oesterreich werten können.

Die beiden Kirchenfürsten werden in ihren Gesprächen, die sie in Wien sicherlich führen, gewiß manche Probleme, mit denen sie selbst befaßt sind, anrühren und manche Auffassungen kennenlernen, die ihnen helfen mögen, gewisse Dinge klarer zu sehen. Es ist schon richtig, daß wir hier kein gültiges Rezept für die Lösung der die Gegenwart bewegenden geistigen Fragen vorweisen können. Es ist schon richtig — und wir müssen dies immer wieder betonen gegenüber manchen Freunden aus dem Westen, die uns hier überwerten wollen —, daß wir keine direkte Dauerverbindung nach dem Osten haben. Nicht minder richtig aber ist es, daß die Menschen hier sich auch im Kampf der Ideen, der ihren eigenen Platz nie in Frage stellen konnte, den Blick für Tatsächlich-keiten, aber auch für Möglichkeiten nicht verwirren ließen.

Viele zehntausende Besucher kommen in diesen Tagen in unsere Stadt. Die beiden römischen Kardinäle, Kardinal Tisserant und Kardinal Agagianian, die wir hier in Wien ebenso ehrfurchtsvoll wie herzlich begrüßen, werden vielleicht wenig Zeit haben, den landschaftlichen Reiz unserer Heimat auszukosten, ihren historischen Schätzen nachzuspüren.

Unsere Lage, unsere Geschichte, unsere Wesensart sind nicht unser Verdienst. Gott hat sie uns gegeben, damit wir sie zu nützen verstehen. Wir hoffen, dies in aller Bescheidenheit und auch in richtigem Maße zu tun. Für die Gegenwart und für die Zukunft, für uns, aber auch für die andern, für Europa, aber auch für den Frieden der Welt. Ist es überheblich von uns, wenn wir in dem Besuch der hohen Gäste aus Rom den Beweis dafür sehen, daß man auch im Vatikan unsere Haltung versteht, sie vielleicht auch zu nützen versteht?

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