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Diktatur und Kunstlertraum

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Bertram D. Wolfe, Professor an der Stanford-Universität in Kalifornien, ist ein profunder Kenner der sowjetischen Geschichte und Literatur, was schon seine bisherigen Bücher bewiesen, vor allem das 1951 erschienene Werk über Lenin, Trotzki und Stalin unter dem Titel „Drei Männer, die die Welt erschütterten“. Im vorliegenden Buch „Brücke und Abgrund“ beschreibt Wolfe die Freundschaft zwischen Maxim Gorki und Lenin und erhärtet die These, daß in einer Diktatur die Künstler, vor allem die Dichter und Schriftsteller, dauernd gefährdet sind: physisch, psychisch und charakterlich.

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Bertram D. Wolfe, Professor an der Stanford-Universität in Kalifornien, ist ein profunder Kenner der sowjetischen Geschichte und Literatur, was schon seine bisherigen Bücher bewiesen, vor allem das 1951 erschienene Werk über Lenin, Trotzki und Stalin unter dem Titel „Drei Männer, die die Welt erschütterten“. Im vorliegenden Buch „Brücke und Abgrund“ beschreibt Wolfe die Freundschaft zwischen Maxim Gorki und Lenin und erhärtet die These, daß in einer Diktatur die Künstler, vor allem die Dichter und Schriftsteller, dauernd gefährdet sind: physisch, psychisch und charakterlich.

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Lenin nannte Gorki den „größten proletarischen Dichter“. Dieser Titel ist Gorki in der sowjetischen Literatur geblieben, und die dreißigbän-dige Gesamtausgabe von Gorkis Werken versucht gleichfalls, den Ausspruch Lenins als eine historische Wahrheit nachzuweisen. Allerdings fehlen in der sowjetischen Gesamtausgabe einige wichtige Schriften Gorkis, vor allem die Broschüre „Revolution und Kultur“, die 1930 in Berlin herauskam und heftige Angriffe gegen Unmenschlichkeit enthielt, die im Verlauf der russischen Revolution begangen worden waren. Gorki galt in der öffentlichen Meinung der Sowjetunion und des Auslands als Freund und Waffenbruder Lenins und Stalins, als Dichter, der durch die revolutionäre Bewegung geformt worden sei. Wolfe bezeichnet diese Charakterisierung als eine Legende. Gorki hatte eine traurige Jugend und unternahm mit 18 Jahren einen Selbstmordversuch. Die Kugel traf die Lunge, und von der getroffenen Stelle gingen später die Tuberkulose-Anfälle des Dichters aus. In seinem Abschiedsbrief schrieb Gorki: ,3itte, macht für meinen Tod den Dichter Heine verantwortlich, der zuerst das Zahnweh des Herzens erfunden hat.“ Gorki überlebte jedoch und begann ein Vagabundenleben, das er auch dichterisch verherrlichte. Seine Gestalten stehen außerhalb der Gesellschaft, sind freiheitsliebende Tramps, barfüssige Habenichtse oder die ersten Gammler und Hippies, wenn man will. Jedenfalls hatten sie nichts mit den Berufsrevolutionären von Lenins Partei zu tun. GorkS war demnach nicht das „Genie der proletarischen Literatur“ oder der Schöpfer des „Sozialistischen Realismus“, als die er in der sowjetischen Literatur gepriesen wird. Er besaß vielmehr ein zwiespältiges Wesen, das zwischen dem dichterischen Drang nach Wahrheit und Gerechtigkeit und dem politischen Verlangen, an die heilsame Lüge glauben zu können, wankte. Zwiespältig ist auch Gorkis Verhältnis zu Lenin. Ebenso echt wie die Freundschaft zwischen den beiden war, ebenso tief war der Abgrund zwischen ihnen: im Temperament, in der Weltanschauung und in der Auffassung vom Menschen. Lenin war von der Politik besessen und in sie vernarrt. Gorki dagegen hatte einen ausgesprochenen Widerwillen gegen Politik. Er verfocht die Heiligkeit des individuellen Lebens und Denkens und dachte nicht klassenkämpferisch, sondern menschlich. Gorkis Ideale des freien Menschen hatte mit Lenins disziplinierten Fabriksarbeitern und schon gar nichts mit Lenins Berufsrevolutionären zu tun. Lenin glaubte an Klassenkampf und Diktatur, an seine Partei als die einzig richtige und an sich selbst als den Schöpfer und Motor der Weltgeschichte. Gorki aber glaubte an den Menschen, an die Freiheit, an die erlösende Macht von Kunst und Wissenschaft und an die Unverletzlichkeit des Individuums. Dies alles stand Lenins großem sozialistischen Experiment im Wege. Der große Heilige des Bolschewismus schrieb an Gorki: „Was erwartest Du? Ist Menschlichkeit möglich in einem so unerhört grausamen Kampf?“ Gorki urteilte deshalb über Lenin: „Er spricht mit eherner Zunge die Sprache des Henkerbeils.“ Schon am Beginn der Machtergreifung des Bolschewismus verschwanden Schriftsteller und Dichter hinter Kerkermauern und Stacheldraht. Gorki kritisierte heftig diese Vorkommnisse, ja nannte in seinen Zornausbrüchen Lenin und Trotzki sogar „Lumpenkerle“. Es gelang ihm allerdings bald nach Beginn der Revolution, von Lenin zum Kurator für die Kunst- und Kulturdenkmäler ernannt zu werden. In dieser Position rettete er unschätzbares russisches Kulturgut vor der Unwissenheit und dem Barbarentum der aufgeregten Massen. Er rettete aber auch vielen Künstlern, Schriftstellern und Wissenschaftlern das Leben, weil er sie vor der Verhaftung durch die russische Geheimpolizei, die Tscheka, bewahrte.

Allerdings, durch seine ständigen persönlichen Interventionen bei Lenin zugunsten der Intellektuellen verstimmte Gorki den bolschewistischen Diktator so sehr, daß dieser ihm nahelegte, nach Italien zu gehen und dort sein Lungenleiden auszuheilen. Erst Stalin rief Gorki wieder zurück und hielt ihn trotz seines Versprechens, den Dichter jederzeit nach Italien reisen zu lassen, falls er es wünsche, in der Krim fest. 18 Monate nach Gorkis Tod im Juni 1936 gestanden der Chef der Geheimpolizei, Jagoda, und die beiden Ärzte, die den Dichter behandelt hatten, in einem der berüchtigten Stalinschen Schauprozesse, daß sie Gorkis Ableben durch eine bewußt falsche ärztliche Behandlung herbeigeführt hätten. Gorki aber, der sich unter Stalin etliche für das Regime positive Erklärungen abringen ließ, galt seitdem im In- und Ausland als Freund und Helfer Stalins. Während Gorki unter großem Pomp als Dichter des Proletariats und der Revolution beerdigt wurde, durchsuchte die Geheimpolizei Gorkis Schriften. Das Ergebnis dieser Prüfung veranlaßte den Chef der Geheimpolizei zur Äußerung: „Ganz gleich, wie gut man den Wolf füttert, er träumt doch immer noch vom Walde.“

BRÜCKE UND ABGRUND. Maxim Gorki und Lenin. Von Bertram D. Wolfe. Europa-Verlag, Wien 1970.

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