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Die merkwürdige Gier nach totaler Ausnutzung der Zeit

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Hier sind Pillen gegen deinen Durst, so daß man nicht mehr zu trinken braucht Sie bedeuten eine große Zeitersparnis. Fachleute haben ausgerechnet, daß man damit 53 Minuten pro Woche sparen kann." „Und was macht man mit diesen 53 Minuten? - Man macht damit, was man will..."

„Wenn ich 53 Minuten zur Verfügung hätte, dachte der ,kleine Prinz', dann würde ich gern gemächlich zu einem Brunnen spazieren."

Diese kurze Geschichte, die Saint-Exupery in seinem Buch „Der kleine Prinz" erzählt, schildert anschaulich unser gestörtes Zeitempfinden: In krassem Gegensatz zu der östlichen Weisheit „Der Weg ist das Ziel" überwiegt in den westlichen Industrienationen die „Knopfdruck-Mentalität", die Gewöhnung an die sofortige Befriedigung der Bedürfnisse.

Jede Form des Wartens gilt als Zeitverlust. Sofort heißt die Parole vom Beinigungsservice bis zur Fotoentwicklung. Im Schnellimbißtempo wird stehend der Hunger gestillt. Aus

Instantpulver werden - im ursprünglichen Sinn des Wortes - augenblicklich Suppen und Getränke. Im Dalli-Dalli-Tempo hetzen Moderatoren durch ihre Fernsehsendungen, und man kann sich des Verdachts nicht erwehren, daß diese Hektik auf der Mattscheibe als Nervenkitzel die Zuschauer besser bei der Stange halten soll. Zeitdruck als Animation also, die gelangweilten, lustlosen Lebensgeister anzukurbeln.

Auf ganz andere Weise wirkt sich das Dalli-Dalli-Tempo in der Schule aus. Hier geht es nicht um angenehmen Prickel, sondern um nervenaufreibende Anspannung und Versagensangst, wenn aufgrund überfrachteter Lehrpläne Zeitdruck herrscht. Prüfungsaufgaben, die so umfangreich sind, daß von vornherein keine Chance besteht, sie in der vorgegebenen Zeit zu erledigen, sind aus pädagogischer Sicht grundsätzlich abzulehnen. Sie fördern nicht die Motivation, sondern untergraben geradezu systematisch den Lerneifer. Wenn nicht in erster Linie fundiertes Wissen, sondern Tempo gefragt ist, werden damit die Weichen im Hinblick auf die gesamte Arbeitshaltung falsch gestellt.

Die Tatsache, daß sowohl an den Schulen als auch an den Universitäten überwiegend im Dalli-Dalli-Tempo unterrichtet und geprüft wird, führt dazu, daß zahlreiche Heranwachsende durch unser Bildungssystem nicht gebildet und zur Lebenstüchtigkeit erzogen, sondern deformiert werden.

Wer jedoch ständig hastet ohne zu rasten, verliert sowohl den Überblick über seine Umgebung, seine Wegstrecke, als auch über sich selbst und sein Ziel. Hektik wirkt ansteckend. Oft genügt es, daß ein gestreßter Mensch den Raum betritt, sofort breitet sich das Gefühl einer diffusen Unruhe aus.

Hektik ist eine Form von Aggression. Sie stört den Lebensrhythmus anderer Menschen und führt - wie jede Aggression - zu Frustration. Hektische Menschen können in ihrer Umgebung psychosomatische Erkrankungen wie beispielsweise Magengeschwüre, verursachen.

In vielen Fällen fehlt der konkrete Anlaß zur Eile. Der Zeitdruck hat jedoch bereits eine Eigendynamik entwickelt, die die Menschen bis hinein in ihre sogenannte Freizeit beherrscht. „Es geht darum, aus der Zeit immer noch mehr verfügbare Augenblicke und aus jedem Augenblick immer noch mehr nutzbare Kräfte herauszuholen", stellte schon Foucault fest.

Angesichts dieser Gier nach der totalen Ausnutzung der Zeit kann bereits von einer regelrechten Sucht gesprochen werden. In den Vereinigten Staaten hat sich unter dem Aspekt der

„Zeiteffizienz" schon ein besonderer Party-Stil entwickelt, bei dem vorgeschrieben ist, daß sich jeder Gast jeweils nur zirka zehn Minuten lang mit seinem Gesprächspartner unterhält, um dann zum nächsten zu wechseln. Nur so - dies die Begründung - sei es möglich, mit jedem der Anwesenden Kontakt aufzunehmen. Diese Steigerung des Small talk wird bei nachdenklichen Menschen das Gefühl hinterlassen, ihre Zeit sinnlos vergeudet zu haben. Mitten aus seinen Gedankengängen herausgerissen zu werden, bedeutet ein Stück Zerstörung; die Anknüpfungspunkte des Gesprächs können für später ganz verloren sein. Und das Bewußtsein, daß ein Gespräch sowieso nicht zu Ende geführt Vierden kann, wird von vornherein verhindern, tiefergründige Themen anzuschneiden. So führt Small talk auch zu Small life. Das oberflächliche Unterhaltungsgeplät-scher trägt nicht dazu bei, daß Menschen einander näherkommen.

Diese Teilnahmslosigkeit ist ein Zeichen dafür, daß sich jeder nur noch um seine eigene Achse dreht. Woher sollte er auch die Zeit nehmen, sich eingehender mit den Problemen anderer zu befassen, wenn er nicht einmal dazu kommt, sich seiner eigenen bewußt zu werden? Wie in einer fensterlosen Gefängniszelle leben die Menschen abgekapselt-vor sich hin. „Eines Tages wird es gleichgültig sein, ob wir glücklich oder unglücklich sind, weil wir für keines von beiden Zeit haben werden."

Diese Zukunftsvision des Dramatikers Tennessee Williams ist inzwischen teilweise leider bereits Bealität geworden.

Die Autorin ist

freie Mitarbeiterin der Furche.

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