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DAS ZEICHEN ZUM BEGINN

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Indes über Gleichgültigkeiten wie: Ob das Theater ein Theater des Heute werden müsse, welche Wege das neue Drama geht, ob der Regisseur die Klassiker ehren oder sie im Gegenteil modernisieren solle, ob der dramatische Dichter auf den Zinnen der Partei oder auf einer höheren Warte oder mit einem Fuß auf jeden, mit dem ändern auf dieser und mit dem dritten 'ini' Älftag zu stehen habe... indes also derlei Belanglosigkeiterl mit deni ganzen Atemaufwand erörtert werden den der'Rhythmus der Zeit' die man hierzu hat, gebietet, geht die Diskussion an wirklichen Kernfragen des Theaters achtlos vorbei.

Zum Beispiel hat noch keiner von jenen, die um die Schaubühne sich sorgen, an das tiefere Problem gerührt: Ob der Beginn der Vorstellung durch ein Klingelzeichen, durch einen Gongschlag oder durch Klopfen auf den Boden angekündigt werden soll. Und doch ist die Minute vor Beginn so wichtig, daß ihrem Ritus Bedeutung zukommt. Ein weich verwehender Gongschlag wird dem Rückenschauer, der die Zuhörer, vernehmen sie das Zeichen zum Beginn, durchläuft, ganz andere Wellenlänge und -richtung geben als ein hart-trockenes Klopfsignal oder das Läuten einer Glocke.

Oder zum Beispiel: der Vorhang! Auch über die Probleme, die er einschließt, wird lange nicht so viel geschrieben wie etwa über neuere Dramaturgie, und doch steckt in ihm tausendmal mehr von des Theaters Zauber und Geheimnis als in jener. Allein schon die Frage: Soll der Vorhang senkrecht hochgezogen oder seitlich gerafft werden? gäbe zu Bänden Theorie Anlaß. Ich will hier bloß sagen: Nur amusische Menschen können für den starren Vorhang sein, der hinauf- und hinunterbewegt wird wie eine vertikale Schiebetür. Er hat das Kaltschnäuzige eines verknöcherten

Bürokraten, der teilnahmslos und ohne Meinung sein Amt übt. Wenn er hinuntergeht, schneidet er brutal die Optik ab. Die Schauspieler verschwinden vom Kopf abwärts. Ihre Beine und Füße bleiben der letzte Eindruck, den von ihnen der Zuschauer empfängt. Fort mit dem Vorhang, der senkrecht hoch- und niedergeht! Er ist Anti-Theater, prosaisch, roh, kalt wie das Leben.

Hingegen der weiche, seitlich zui raffende Vorhang! Er ist träumeschwer, sinnlich, warm wie das Theater. Welche Musik in seinem Faltenzug und Fall. Er senkt sieh als

Mantel der Liebe, die alles deckt, oder als Sargtuch, oder als Schleier der Maja, oder als Vorhang vorm Fenster, den das Paar, das jetzt keine Zuschauer brauchen kann, herabläßt. Schwebt er aber hoch, dann ist es, als ob die Illusion ihre Arme öffnete, dich zu empfangen.

Dichter, Dramaturgen, Schauspieler werden die Wichtigkeit solcher Probleme wie das des Beginnzeichens oder des Vorhanges leugnen. Weil šie einen falschen Begriff vom Wesentlichen des Theaters haben. Weil sie meinen, auf die Bühne und die Vorhänge dort komme es an. Nun ist ja nicht abzustreiten, daß der Bühne eine gewisse Bedeutung im Theaterganzen zukommt. Aber gar so mausig, als wäre sie zentraler Sitz der rätselreichen Welt, die wir Theater nennen, braucht sie sich nicht zu machen. Ob gute oder schlechte Stücke, und ob sie gut oder schlecht gespielt werden, ist eine sekundäre Frage; der ewige, geheimnisvolle, allereigentlichste Reiz des Theaters ist: „Das Theater.“ Der Apparat und die Zeremonie. Das Zusammenrücken, das Nebeneinander erregungshungriger Menschen. Das Schwirren der unsichtbaren Fäden, die von tausend Augenpaaren hingespannt sind zu einem Punkt. Das Gemurmel und das Schweigen. Der Theaterzettel und der Sitzanweiser, das Dunkelwerden, der Vorhang und der Scheinwerfer und das Applaudieren und der Souffleurkasten und der leere Stuhl, auf den sich der Kapellmeister setzen wird (wenn er darauf sitzt, ist der Stuhl schon nicht mehr so interessant), und das Stimmen der Instrumente, diese wunderlichst erregende Musik, die es gibt.

Theater: Die höhere Wahrheit des Trugs, das Irrationale als aller Erscheinungen tiefste Ratio. So erklärt es sich, daß etwa in der Bühnengegebenheit: Leibhaftige Menschen und gemalter Wald, nicht der vorgetäuschte Wald, sondern die Wirklichkeit der Menschen die größere Zumutung an unsere Einbildungskraft stellt; daß wir nicht die toten Kulissen, sondern den lebendigen Schauspieler zwischen ihnen als das Unwahrscheinlichere empfinden. Niemals wieder hat uns Glück und Zauber des Theaters so unmittelbar und stark angerührt wie als Kinder, wenn unsere Akteure aus Pappendeckel geklebt waren, hinten von einer Holzleiste gestützt.

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