Abstieg ins Schattenreich

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Erneut macht sich Gerhard Roth auf abgründige Entdeckungen „im Inneren von Wien“.

„Oh weh! O weh! Ich werde zu spät kommen“, ruft das weiße Kaninchen, worauf es „wahrhaftig eine Uhr aus der Westentasche zog – und darauf sah und dann weitereilte.“ Lewis Carroll sei es hier gelungen, „den Raum der Zeit, die sogenannte vierte Dimension, in Buchstaben“ zu fassen, so Gerhard Roth in seinem „fraktalen Bericht“ über das Wiener Uhrenmuseum, der eines der Leitmotive seines Essaybandes „Die Stadt“ vorgibt: das Phänomen der Zeit in Bezug auf das wahrnehmende Subjekt. Roth erweist sich als Meister der kunstvollen Abschweifungen; da ist Laurence Sterne nicht weit, der in seinem „Tristram Shandy“ der Zeit ein Schnippchen schlug und das Buch sogar vor seinem Beginn enden lässt.

Ach, armer Yorick!

Wussten Sie übrigens, dass Sterne „ebenso ohne Kopf in seinem Grab lag wie Haydn ... Auch von Bach, Beethoven, Mozart oder Schubert, Descartes, de Sade und Leibniz waren die Schädel zumindest einige Zeit lang vermisst.“ – „Ach, armer Yorick!“, möchte man da mit Sterne bzw. Hamlet rufen, und doch sind jene prominenten Schädel, von Souvenirjägern oder zum Zwecke phrenologischer Untersuchungen von ihren Trägern entfernt, nur Stellvertreter für jene vielen Tausende auf „Wiens zweitgrößtem Friedhof“, dem Naturhistorischen Museum mit 40.000 anthropologischen Objekten, wobei die „Erwerbungen“ aus der NS-Zeit bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Provenienzforschung sind.

„Die Stadt“, womit Roth seinen siebenteiligen Zyklus „Orkus“ beschließt, ist dem Essayband „Eine Reise in das Innere von Wien“ (1991) eng verwandt. Die meisten der nun veröffentlichten Texte wurden bereits publiziert, in diesem neuen Kontext erscheinen sie als nachgereichte Vorarbeiten zu den vorangegangenen Romanen und Roths Autobiografie „Das Alphabet der Zeit“. Auf die lose Konzeption des Zyklus kann hier nicht im Detail eingegangen werden, doch nennt Roth im Katalog zur 2002/03 in Wien und Graz gezeigten Materialien- und Foto-Ausstellung „Orkus. Im Schattenreich der Zeichen“ als literarische Vorbilder vor allem die „Odyssee“, James Joyces „Ulysses“ und Dantes „Commedia“.

Anders als die Helden seiner Romane verlässt Roth für seine akribischen Recherchen Wien kaum – abgesehen von einem Abstecher ans „Meer der Wiener“, den Neusiedlersee, und ins Auffanglager Traiskirchen, wo zahlreiche namenlose Odysseen in Lethargie enden. Die meisten Besuche gelten aber Sammlungen und Archiven der früheren k. k. Haupt- und Residenzstadt, der Roth unbeirrbar hinter die Kulissen blickt, wo sich die Leichen aus älterer und jüngerer Vergangenheit nicht nur im Keller stapeln. Der Tod ist allgegenwärtig in Roths Wien-Essays, doch nie kokett-sentimentales Klischee.

Movens jeder Sammelleidenschaft ist oft der unbewusste Drang, sich über die alles zerstörende Wirkung der Zeit hinwegzusetzen „und den Charakter des göttlichen Schöpfungsspiels zu imitieren“, wobei die imperiale Sammelleidenschaft in der Aneignung von Objekten selten Skrupel kannte. Ordnung ist allerdings kein beständiger Zustand, weshalb am Ende jeder Sammlung unvermeidbar auch ihre Zerstreuung steht, wie Roth am Beispiel der Kunst- und Wunderkammer Erzherzog Ferdinands II. demonstriert, deren Prunkstück, die Saliera – aber das ist ja bekannt ...

Ein Besuch im Josephinum, wo Hunderte kunstvolle Wachsmoulagen ein von Joseph II. versammeltes „enzyklopädisches Inventar der menschlichen Anatomie“ bilden und zugleich Zeugnis eines heute nur schwer nachvollziehbaren Prioritätsstreits zwischen gelehrten Medizinern und den Handwerkern der Militärchirurgie geben, ist Gelegenheit für ausführliche kultur- und kunsthistorische Exkurse. Diese detailgenauen, wenn auch idealisierten Wachsbilder treten an die Stelle des verwesenden Körpers und nehmen dem Tod seinen Schrecken, der dann freilich im benachbarten Gerichtsmedizinischen Museum umso präsenter ist.

Neben dem k. k. Hofkammer-Archiv, wo Franz Grillparzer in müßigen Amtsstunden seinen subversiven Sarkasmus pflegte, und der Nationalbibliothek steht auch das Blindeninstitut und das Bundesgehörloseninstitut auf Roths Liste, wodurch das „Schattenreich der Zeichen“ eine zusätzliche Bedeutungs-Dimension gewinnt.

Zwischen dem „Vorzimmer des Todes“ im Vorwort und dem Zentralfriedhof im Epilog spannt Roth einen sehr weiten Bogen zwischen Kleists „zwei Spannen diesseits der Erde nach zwei Spannen drunter“, die das Leben ausmachen.

Die Stadt. Entdeckungen im Inneren von Wien

Von Gerhard Roth

S. Fischer 2009. 560 S., geb., € 21,60

ISBN: 3-10-066082-X

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