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Aufbauhilfe der anderen Art: Ein Australier bringt den Kindern von Kabul das Skateboarden bei. Ganz nebenbei kümmert er sich um ihre Bildung.

Fazila hält ein Mädchen an beiden Händen. Langsam schiebt sie es auf der kleinen Rampe vor und zurück. Erste Übung am Skateboard: Gleichgewicht halten.

Nicht weit davon entfernt gleitet Hanifa eine Schrägfläche hinunter, ein kleines Mädchen saust hinterher, mit entschlossenem Blick und hellrosa Knieschützern. Die Luft in der weitläufigen Skate-Halle ist kühl, es riecht nach frischem Holz.

Heute vor zwei Jahren haben die beiden Teenager Fazila und Hanifa noch Kaugummi auf den Straßen von Kabul verkauft. Mit dem mickrigen Verdienst haben sie sich durchgeschlagen und ihre Familien unterstützt. Jetzt sind die beiden bezahlte Trainerinnen in Skateistan, der ersten koedukativen Skateboard-Schule der Welt. Auf dem weitläufigen Areal gibt es zwei Klassenzimmer mit bunten Kinderzeichnungen an den Wänden, eine Kletterwand und einen Bereich mit Rampen zum Skateboarden.

Jede Woche kommen 400 Kinder hierher und werden nach einem humanistischen Lehrplan unterrichtet. Neben skateboarden lernen sie Englisch und ein friedvolles Miteinander zwischen unterschiedlichen sozialen und ethnischen Schichten. Mehr als die Hälfte der Skateistan-Schüler hat davor auf der Straße gearbeitet. Mit Schuhe putzen, Autos waschen oder Blumen verkaufen haben sie zum Familienunterhalt beigetragen. Jetzt tun sie das mit Sport: Fazila, Hanifa und die anderen Mädchen, die unterrichten, verdienen damit jeden Monat 9.000 Afghani, rund 150 Euro. Und noch mehr: Vor einem Jahr wurden sie zu einem Führungskräfte-Treffen für Jugendliche nach Italien eingeladen. Dort haben sie, natürlich, ihr Können am Skateboard demonstriert. "Ich möchte einmal ein berühmter Skate-Star werden“, sagt Hanifa grinsend.

Start mit einem Betonbrunnen

Die tiefgreifenden Veränderungen im Leben dieser jungen Mädchen - und dem von Dutzenden anderen Kindern und Jugendlichen in Kabul - wurden von Oliver Percovich ins Rollen gebracht. Mit Energie, Ehrgeiz und Einsatz hat er Skateistan aufgebaut. Der 38-jährige Australier, der früher in Melbourne eine Bio-Bäckerei betrieb und als Forscher für Katastrophemanagement arbeitete, folgte im Jahr 2007 seiner damaligen Freundin nach Kabul, die dort eine Stelle als Entwicklungshelferin angenommen hatte.

Damals verwandelte er mit nur drei Skateboards und zwei Freunden ausgestattet einen heruntergekommen Betonbrunnen in einen Skatepark. Aber er bemerkte schnell, dass die Kinder von Kabul weit mehr brauchen als Ollies, 180ies oder Kickflips und gründete seine NGO Skateistan.

Nicht nur inhaltlich, auch geografisch hat Percovich seinen Wirkungsbereich in den letzten fünf Jahren erheblich erweitert: Ein neues Gebäude, in dem 1.000 Schüler Platz haben, wird noch heuer mit Unterstützung des deutschen Außenministeriums in der nordafghanischen Stadt Mazar-e-Sharif eröffnet. Und es gibt schon konkrete Pläne für eine Skateistan-Dependence in Kambodscha.

Das bringt auch internationale Aufmerksamkeit: "Skateistan: The Tale of Skateboarding in Afghanistan“ (deutsch: Skateistan: Die Geschichte vom Skateboarden in Afghanistan), ein 320-seitiges Buch mit Fotos und Texten rund um die Schule, wurde heuer veröffentlicht. Unterstützung dafür gab’s von der kalifornischen Skate-Legende Jim Fitzpatrick. Und letztes Jahr tourte ein abendfüllender Dokumentarfilm über die Geschichte der Kabuler Schule durch die internationale Filmszene.

Die Arbeit von Percovichs privat geführter NGO unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von anderen Hilfsorganisationen: In der westlichen Kultur wurde Skateboarden lange als ein Hobby für Outsider betrachtet - Percovich benutzt gerade das als Mittel zur sozialen Integration. Seine Idee, Skateboards als Werkzeug zu verwenden, um arme Jugendliche in die Mitte der Gesellschaft zu rücken, hat ihn innerhalb der NGO-Szene von Anfang an von der üblichen Spendenkultur abgehoben.

"Witzigerweise bekamen wir unser erstes Geld aus Norwegen, obwohl Skateboarding dort 1988 verboten wurde“, sagt er. Auf Spenden ist auch er angewiesen, allerdings richtet er sein Programm nicht danach aus: "In Skateistan geht es uns immer um das Gleiche: Das Skateboard ist unser Instrument der Jugendarbeit.“ Natürlich müsse man, wenn man mit einem Botschafter spricht, einen anderen Aspekt des Projekts betonen, als wenn man die Eltern einer Schülerin davon überzeugt, dass sie weiterhin zum Unterricht kommen darf: "Aber bei unserer Arbeit orientieren wir uns daran, was wir tun wollen, und nicht daran, was ein Spender will.“

Sein Konzept geht trotzdem auf: Die Regierungen von Deutschland, Norwegen, Dänemark und Kanada fördern das Projekt. Und die Schule und der Skatepark im Zentrum von Kabul stehen auf dem Gelände des Olympischen Komitees von Afghanisten.

Kreative und soziale Infrastruktur

Trotz allem bemüht sich Percovich so weit als möglich unabhängig von Spendern zu bleiben - und greift dafür zu originellen Mitteln. Diverse Skateboard-Firmen erzeugen auf seinen Impuls hin eigene Produktlinien, deren Gewinn zum Teil an Skateistan geht. So gibt es Skateschuhe von der kalifornischen Firma Fallen oder Helme und Knieschützer von der deutschen Firma TSG, allesamt in den Farben rot, schwarz und grün, den Farben der afghanischen Flagge.

Laut dem afghanischen Finanzministerium wurden zwischen 2002 und 2010 insgesamt 57 Milliarden Dollar in den Wiederaufbau und die Entwicklung des Landes investiert. Der Großteil dieses Geldes, sagt Percovich, fließe allerdings in den Aufbau der technischen Infrastruktur.

Ihm hingegen war es immer wichtig, auch eine kreative und soziale Infrastruktur in der kriegsgebeutelten Region aufzubauen. "Wir wollen eine Institution sein, der die Menschen vertrauen können. Wir wollen, dass die Stimmen der Kinder gehört werden - was wir machen, ist ein bisschen verschwommener als das Programm von anderen Hilfsorganisationen. "Aber genau das ist die Chance, etwas zu schaffen, das wirklich nachhaltig ist.“

Erfolgreiche Kulturarbeit

Sein Ziel ist die Friedensarbeit, die Skateboards sind Aufhänger, um mit Kindern und ihren Familien in Kontakt zu kommen. Ein sportbasiertes Projekt aufzubauen, bei dem es um Skateboarden geht, und das sich vor allem auch um Mädchen kümmert, hat Percovich bereits mit der afghanischen Kultur in Konflikt gebracht.

Als Familien ihren Töchtern verboten haben, in die Schule zu gehen, hat er Mitarbeiter zu ihnen nach Hause geschickt, um das Gespräch zu suchen und das Problem zu lösen. In den allermeisten Fällen waren sie erfolgreich. Das angestrebte ausgeglichene Verhältnis zwischen Mädchen und Buben hat Percovich zwar noch nicht ganz erreicht. Aber mit 150 Mädchen, die jede Woche zum Skaten kommen, ist die Schule in Kabul der größte Frauen-Sportverein Afghanistans.

Die kleinen Erfolge lassen ihn auch über die allgegenwärtigen Probleme hinwegsehen: Die permanente Gefahr von unvorhersehbarer Gewalt, eine schlechter werdende Sicherheitslage, Stromausfälle, Internetstörungen oder die komplexe Bürokratie machen es Percovich und seinem Team nicht leicht, die NGO zu führen. "Jeden Tag ist die Schule mit neuen Herausforderungen konfrontiert“, sagt er. Aber Percovich bleibt hartnäckig und will das Land, anders als viele andere Entwicklungshelfer, nicht so bald verlassen: "Wir wollen ein Ergebnis sehen. Und das wird nicht passieren, wenn wir nicht mindestens zehn Jahre vor Ort sind.“

Nachtrag: Den tragischsten Verlust musste Skateistan am Wochenende hinnehmen: Am Sonntag, 9. September, sprengte sich ein Selbstmordattentäter in der Nähe des ISAF-Hauptquartiers in die Luft und riss sechs Kinder mit in den Tod. Vier davon waren Schüler in Skateistan: Khorshid (14) arbeitete als Skateboard-Trainerin. Ihre jüngere Schwester, Parwana, war erst acht Jahre alt. Nawab (17) war einer der ersten Burschen im Projekt. Und Assad fuhr zwar nicht Skateboard, aber verbrachte seine Freizeit gerne in Skateistan.

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