Und sie lesen immer noch ...

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Lesen ist nach wie vor die Lieblingsbeschäftigung der Volksschüler. Eine brandneue Studie weist jedoch auf Mängel in der Leseförderung hin.

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Lesen ist nach wie vor die Lieblingsbeschäftigung der Volksschüler. Eine brandneue Studie weist jedoch auf Mängel in der Leseförderung hin.

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Die Jugend von heute liest keine Bücher mehr!" Diesem weit verbreiteten Vorurteil widerspricht eine soeben vorgestellte Studie. "Die acht- bis 14jährigen lesen nach wie vor Bücher und sie wenden wesentlich mehr Zeit für die Buchlektüre auf als die älteren Jugendlichen oder gar die Erwachsenen", resümiert Margit Böck vom Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien eines der markanten Ergebnisse der Untersuchung. Demnach lesen über ein Drittel der acht- bis 14jährigen fast täglich in einem Buch, bei der Bevölkerung über 14 sind es nur 15 Prozent. Nur fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen, aber 33 Prozent der über 14jährigen lesen nie Bücher.

Lesen scheint zusehends eine kindliche Freizeitbeschäftigung zu werden. "Früher kamen erst die Volksschüler in die Bibliotheken. Heute kommen schon dreijährige und borgen sich Bilderbücher aus", weiß Alfred Pfoser. Der Leiter der öffentlichen Büchereien Wien hat auch beobachtet, daß heute viele Kinder schon lesen können, wenn sie in die Volksschule kommen.

Der große Leseknick findet etwa im Alter von zehn Jahren statt: Während die Hälfte der Volksschüler in ihrer Freizeit sehr gerne Bücher liest, sinkt der Anteil der Vielleser mit elf und zwölf Jahren auf rund 30 Prozent. In diesem Alter kristallisieren sich die individuellen Interessensunterschiede heraus, andere Medien und Freizeitbeschäftigungen werden wichtiger: Musik Hören, Fernsehen, Computer treten stärker in den Vordergrund, die peer group, der engere Freundeskreis, wird zu einem wichtigen Bezugspunkt für die Jugendlichen. Auch die Abgrenzung vom Elternhaus und von der Schule - beide Institutionen erwarten und fördern das Lesen - spielt da eine Rolle. Lesen wird für einen großen Teil der Jugendlichen "uncool".

Später, mit dem Ende der Schulzeit und dem Beginn des Arbeitslebens hören viele überhaupt auf zu lesen; Beruf und Familie lassen kaum noch Zeit für Lektüre. "Viele Nicht-Leser sind verhinderte Leser", bedauert Kommunikationswissenschaftlerin Böck.

Kompetenzen im Umgang mit Medien und das Lesen im Speziellen seien in einer Informations- und Kommunikationsgesellschaft "Basisqualifikationen", betont Böck. Sie seien Voraussetzung für eine selbstbestimmte Lebensführung und Erfolg im Berufsleben, denn die sich verändernden Arbeitsmarktbedingungen erforderten heutzutage permanente Fortbildung oder gar mehrmaliges Umlernen im Laufe des Arbeitslebens. Wer mit gedruckter Information besser umgehen kann, hat in diesem gesellschaftlichen Rahmen gewaltige Vorteile.

Lesen bringt Vorteile "Da vor allem die Volksschüler und Volksschülerinnen viel Freude am Lesen haben und auch viel lesen, können diese mit Leseförderungsmaßnahmen ganz besonders angesprochen werden", meint Karin Sollat vom Internationalen Institut für Jugendliteratur und Leseforschung in Wien. Umso bedauerlicher, daß ein Drittel der in der Studie befragten Volksschüler erklärten, daß ihre Schule über keine Bibliothek verfüge. Während Hauptschulen und Allgemeinbildende Höhere Schulen (AHS) zur Führung von Bibliotheken verpflichtet sind, gibt es für Volksschulen keinen entsprechenden ministeriellen Erlaß. "Eine baldige Realisierung dieses Erlasses wäre wünschenswert", formuliert Sollat.

Leseförderung ist allen Institutionen, die mit Kindern und Büchern zu tun haben, ein großes Anliegen. Vorigen Samstag zum Beispiel begingen Österreichs Buchhandlungen, Schulen und Bibliotheken den Andersen-Tag. Der Geburtstag des dänischen (Märchen-)Schriftstellers Hans Christian Andersen diente bereits zum 19. Mal als Anlaß für zahlreiche Aktivitäten zur Leseförderung und Erziehung: Unter der Ägide des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels wurden unter anderem Gratisbücher verschenkt und ein Literatur-Gewinnspiel veranstaltet.

Zeitgemäße Leseförderung muß mit ganz anderen Verhältnissen zurecht kommen, als noch vor 20 Jahren. Durch den Computer, die Explosion des Fernsehprogrammangebots, den Videorecorder und Videospiele hat das Buch massive Konkurrenz bekommen. "Durch die neuen Medien verändert sich die Funktion der alten Medien", erklärt Kommunikationswissenschaftlerin Böck. Als Prestigeobjekt taugt das Buch heutzutage kaum mehr. Mit einer schönen Ausgabe von Goethes Gedichten ist bei den Mitschülern kein Staat mehr zu machen. Was für die acht- bis 14jährigen beim Lesen zählt, ist Spaß und Spannung, aber auch Information. Das Sachbuch erfreut sich bei Jugendlichen immer größerer Beliebtheit.

Die Studie des Internationalen Instituts für Jugendliteratur und Leseforschung und dem Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien hat auch beträchtliche Unterschiede im Leseverhalten zwischen Mädchen und Buben zutage gefördert. Mädchen lesen nicht nur mehr als Buben (48 zu 26 Prozent), sie lesen auch anders: Während Burschen Abenteuer, Grusel- und Sachbücher bevorzugen, interessieren sich Mädchen vor allem für "realistische", "problembezogene" Geschichten. Insgesamt sind Christine Nöstlinger und der umstrittene Thomas Brezina die mit Abstand beliebtesten Kinderbuchautoren in Österreich. Abgeschlagen folgen "moderne Klassiker" (Sollat), wie etwa Astrid Lindgren oder Robert Louis Stevenson. Out hingegen ist Karl May.

Mädchen lesen anders "Sollten vor allem die Jungen möglichst frühzeitig von Leseförderungsmaßnahmen erfaßt werden, indem sie in der Schule auch in ihren Leseinteressen ernst genommen werden (Stichwort: Sachliteratur), so sind die Mädchen stärker an die Computermedien heranzuführen. Auch die informationsorientierte Nutzung von Büchern wäre bei Mädchen zu forcieren", schlagen die Autorinnen der Studie, Margit Böck und Karin Sollat, vor. Sollat plädiert für eine Diskussion über die "unterschiedliche Leseförderung für Buben und Mädchen".

Und wie können Eltern und Familie dazu beitragen, daß ihre Kinder inmitten von Büchern aufwachsen und nicht die meiste Zeit vor Bildschirmen verbringen? Margit Böck: "Buchgeschenke sind noch immer die wichtigste Anregung."

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