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ZUM DOSSIER

Doris Helmberger

Lebte Franz Joseph Gall im Heute, wie viel Mühe hätte er sich doch erspart! Mit Verve sammelte der zunächst in Wien tätige Arzt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Menschenschädel, betastete die knöchernen Überreste und versuchte, anhand ihrer Beschaffenheit Rückschlüsse auf das zu Lebzeiten vorhandene "Hirnvermögen" zu ziehen. Zwar wurde Galls "Schädellehre" 1802 verboten - das Interesse der Allgemeinheit an den Vorgängen im Gehirn hatte er mit seiner ominösen Untersuchungsmethode, die später auf den Namen "Phrenologie" getauft wurde, in jedem Fall geweckt.

Heute sind derlei Abtastungen nicht mehr nötig: Raffinierte Techniken erlauben es Medizinern und Forschern, den kleinen grauen Zellen direkt beim Fühlen, Denken und Handeln zuzusehen. Auch die Zeit der indirekten Rückschlüsse aus Hirnschäden ist damit vorbei, freut sich Professor Johannes Tauscher von der Psychiatrischen Universitätsklinik in Wien: "Zum ersten Mal ist es möglich, sich im lebenden Menschen bestimmte Hirnfunktionen oder Hirnstrukturen anzuschauen und damit die biologische Basis von menschlichem Verhalten zu studieren." Möglich machen diesen Blick ins Oberstübchen vier verschiedene Methoden:

n Die beiden klassischen Varianten Magnetenzephalografie (MEG) und Elektroenzephalografie (EEG): Dabei werden magnetische oder elektrische Felder auf der Kopfoberfläche gemessen und auf ihre Quellenorte im Gehirn zurückgerechnet. Hilfreich sind diese Varianten vor allem für sehr schnell ablaufende Prozesse. In Kombination und mit Hilfe dreidimensionaler Abbildungen am Computer ermöglichen sie das Verfolgen von Hirnvorgängen in Echtzeit.

n Positronen-Emissionstomografie (PET) und Single-Photonen-Emissionstomografie (SPECT): Hierbei werden schwach radioaktive Substanzen in die Blutbahn injiziert, die entweder aktive Hirnregionen markieren oder sich auf spezifischen Proteinstrukturen festsetzen. Aus den Messwerten wird ein Bild errechnet, das die markierten Hirnbereiche erkennen lässt. Anders als MEG und EEG ermöglichen diese beiden Varianten eine noch genauere Verortung im Gehirn.

n Funktionelle Magnetresonanz- tomografie (fMRI): Starke Magnete bauen bei dieser Methode ein Feld auf, in dem sich sämtliche Wasserstoffatome des Körpers ausrichten. Springen sie in ihre ursprüngliche Position zurück, senden sie elektromagnetische Strahlung aus und werden erfassbar. Zwar belastet diese Methode den Körper nicht mit radioaktiver Strahlung. Bis vom Computer ein 3-D-Bild errechnet ist, muss der Proband jedoch 15 Minuten lang regungslos in einer Röhre verharren.

Freilich ermöglichen auch die ausgeklügeltsten Techniken und bildgebenden Verfahren nur einen flüchtigen Blick auf einzelne Vorgänge im menschlichen Gehirn. Das gewundene Organ als ganzes ist jedoch schwer zu durchschauen: Zwar wiegt es nur knapp 1,5 Kilogramm und beträgt damit rund zwei Prozent des Körpergewichts, benötigt aber 15 Prozent der Blutmenge, 25 Prozent des Sauerstoffs und sogar 70 Prozent des Zuckers. Eingelagert in einem Wasserkissen schwimmt es gut geschützt in der harten Schädelkapsel. Eine autonome Durchblutungs-Regulation erlaubt es dem Gefühls- und Denkapparat, gezielt und selektiv in diejenigen Hirnregionen Blut zu pumpen, die aktiv sind.

Faszinierender als die Hardware des biologischen Computers ist freilich seine Software: Rund 100 Milliarden Nervenzellen sind mit jeweils 1.000 Schaltstellen (Synapsen) untereinander verbunden und bilden zusammen dichte Netze aus geschätzten 340.000 Kilometern Nervenfasern. Wie die Neuronen jedoch genau miteinander kommunizieren, ist großteils noch ein Rätsel.

Einige Grundzüge des "neuronalen Codes", der Sprache der Nervenzellen, wurden jedoch zu Tage gefördert: So basiert ihre Kommunikation auf dem Prinzip "Erregung" und "Hemmung". Von der ersten Zelle werden Botenstoffe ausgeschüttet, Neurotransmitter, die auf die Eiweißstruktur der zweiten Zelle, den so genannten Rezeptor, wirken. "Dort wird dann eine Kaskade in Gang gesetzt, die letztendlich die Art der Signalübertragung bestimmt, ob also diese Nervenzelle gehemmt oder erregt wird", erklärt Johannes Tauscher.

Allein aus der Kenntnis dieses Vorgangs eröffnen sich - in Kombination mit bildgebenden Verfahren - neuartige Untersuchungs- und Diagnosemöglichkeiten. So konnte Tauscher im Rahmen eines Studienaufenthaltes in Kanada einen Zusammenhang feststellen zwischen der Anzahl der Rezeptoren für den Botenstoff Serotonin und dem Grad der Ängstlichkeit: "Je weniger solcher Rezeptoren im Hirn vorgefunden werden, umso ängstlicher ist man." Ganz ähnliche Wechselwirkungen entdeckte der Forscher mit Hilfe der PET-Methode auch für Depression und Bulimie. Offen seien jedoch nach wie vor die Vorgänge innerhalb der Zelle, so Tauscher. Würde auch dieser weiße Fleck auf der neuronalen Landkarte mit Sinn erfüllt, so könnte endlich der lang gehegte Traum von punktgenau wirkenden Psychopharmaka in Erfüllung gehen.

Auch den Wahrnehmungsmechanismen des Gehirns sind die Neurowissenschafter auf der Spur: So weiß man heute, dass die auf uns einströmenden Informationen nur aufgenommen werden, weil sich die elektrischen Verbindungen zwischen den Neuronen in Sekundenbruchteilen ändern und sich neue Schaltkreise bilden können. Das wahre Maß für die Komplexität unseres Gehirns ist also nicht allein die Zahl der Nervenzellen, sondern die Gesamtzahl möglicher Verbindungen.

Erst im Vorjahr glaubte der Neurowissenschafter Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt überdies ein Erklärungsmodell für das so genannte "Bindungsproblem" gefunden zu haben. Wie schafft es das Gehirn, dass im Kopf Bilder, Gedanken und Gefühle entstehen und nicht im Tohuwabohu versinken? Nach Singer sorgt vor allem eines dafür, dass die Welt im Kopf nicht aus den Fugen gerät: das Schwingen der Neuronen im Gleichtakt. Der neuronale Grund-swing pulsiert mit einer Frequenz von rund 40 Hertz. Ein Objekt wird also erst dann bewusst wahrgenommen, wenn es Auslöser war für eine solche 40 Hertz-Oszillation.

Wo sich freilich das dazu nötige Bewusstsein befindet, ist strittig: Nach heutigem Wissensstand sind uns jedenfalls nur solche Dinge bewusst, die mit Aktivität der sechsschichtigen Großhirnrinde (Kortex) einhergehen. Wie eine Badekappe stülpt sich diese zwischen 1,5 und vier Millimeter dicke Schicht über das gesamte Großhirn. Freilich hat bei bewussten Bewegungen auch unser Gefühlsgehirn, das limbische System, ein Wörtchen mitzureden. Ob es bei der bloßen Mitbestimmung unserer Emotionen bleibt oder ob sämtliche Willkürhandlungen primär von Gefühlen gesteuert werden, ist zur Zeit Inhalt einer folgenschweren Debatte zwischen Neurowissenschaftern, Philosophen und Theologen (vgl. die Seiten 15 und 16). Eines scheint jedoch unbestritten: Der Sitz des Bewusstseins beschränkt sich nicht bloß auf einzelne Lappen der Gehirnrinde. Vielmehr ist Bewusstsein zumindest "ein panzerebrales Geschehen", wie der Wiener Neurowissenschafter und Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für funktionelle Hirntopographie, Lüder Deecke, zu berichten weiß.

Aus für Kognitives

Stück für Stück tasten sich die Forscher an die Geheimnisse in den Gehirnwindungen heran. Was jedoch fehlt, ist eine Zusammenschau: "Wir können heute punktuell einzelne Fragestellungen abklären, aber das sagt uns noch überhaupt nicht, wie das gesamte Gehirn funktioniert", erklärt Hans Lassmann, Vorstand des 1999 gegründeten Instituts für Hirnforschung an der Universität Wien. Von ernüchternden Befunden lässt man sich freilich nicht beirren: Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses steht vor allem die Multiple Sklerose. Auch die Mechanismen des Zelltodes im Allgemeinen und Alzheimer im Besonderen werden unter die Lupe genommen. Dagegen blüht dem kognitiven Bereich am Institut das Aus: Zwar werden laufende Projekte weitergeführt (siehe diese Seite), in Zukunft dürften aber Antworten auf die Fragen nach den komplexen Vorgängen beim Fühlen, Denken und Sprechen noch öfter als bisher im Ausland einzuholen sein.

Das Umspannwerk im Kopf ist also lange nicht durchschaut - und schon gar nicht zu kopieren. "Man hat in den neuronalen Netzwerken funktionierende Grundbausteine gefunden", konstatiert Manfred Schmidbauer von der Neurologischen Abteilung am Krankenhaus Lainz. "Aber ich hätte niemals die Stirn zu sagen, wir haben bald das erste künstliche Gehirn."

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