Solidarität braucht Gegenseitigkeit

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Die Idee einer "Bürgergesellschaft", wie sie die ÖVP vorschlägt, erfordert eine Einheit von Gesinnung und Struktur.

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Die Idee einer "Bürgergesellschaft", wie sie die ÖVP vorschlägt, erfordert eine Einheit von Gesinnung und Struktur.

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Die große Frage ist nun, woher diese Solidarität und der Wille zum Engagement tatsächlich kommen sollen?" - Zur Antwort auf diese kritische Rückfrage von Elfi Thiemer zur Idee einer Bürgergesellschaft (Furche Nr. 16/99, Seite 1) als Beitrag einige Überlegungen, ausgehend von dem Grundsatz: Solidarische Verhaltensweisen erfordern eine Einheit von Gesinnung und Struktur, sind nur auf der Grundlage gemeinsam angenommener Wertordnungen möglich.

Das gilt bereits von der "bloßen Solidarität" auf Gegenseitigkeit (zum Beispiel in einer Versicherung, Krankenkasse und so weiter), die auf der Verkoppelung der je eigenen Interessen beruht. Bereits hier müssen sich die Teilnehmer an einer solchen Gruppenbildung einigermaßen darauf verlassen können, daß die Abmachungen eingehalten werden. Je unübersichtlicher der dazugehörige Personenkreis und je geringer das gegenseitige Vertrauen ist, desto weniger wird ein solches System funktionieren. Jeder nützt es aus, bis es zusammenbricht ("Das zahlt ohnehin die Versicherung", Versicherungsbetrug wird zum Kavaliersdelikt; zum Beispiel durch mißbräuchliche Verwendung von Krankenscheinen, die wieder die Einhebung einer Schutzgebühr erforderlich machen). Je größer und damit anonymer der Bereich eines solchen Zusammenschlusses zum je eigenen Vorteil ist, desto mehr wachsen die Möglichkeiten des Ausnützens und desto stärker ist das Mißtrauen unter den Beteiligten, weil es sich in Wirklichkeit um Konkurrenten handelt. Schon daraus ergeben sich die großen Gefahren einer globalen Wirtschaft ohne die nötigen gemeinsamen ethischen Grundlagen.

Dazu kommt aber, daß diese bloße Solidarität dazu neigt, sich zum Nachteil Dritter zusammen- und diese damit auszuschließen. "Jeder ist sich selbst der Nächste", heißt hier der Grundsatz. Die einzige Einschränkung der Freiheit des einzelnen zur Verwirklichung seiner Möglichkeiten besteht nach Milton Friedman, dem Ideologen des Neoliberalismus, darin, "daß er nicht die Freiheit anderer Personen beschränke, das gleiche zu tun". Von einer Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer Menschen und kommender Generationen sowie auf die Ressourcen der Erde ist hier keine Rede. Jeder Mensch muß selbst sehen, ob und wie er am besten überleben kann und mit wem er sich zu diesem Zweck zusammenschließt. Daraus werden leicht Allianzen gegen gemeinsame Feinde (es können auch Minderheiten sein, von denen man befürchtet, sie könnten auf Grund ihres stärkeren Zusammenhalts die Oberhand gewinnen oder gar zu Mehrheiten werden). Daß diese bloße Solidarität für eine Bürgergesellschaft nicht genügt, liegt auf der Hand (schon gar nicht für eine sogenannte "multikulturelle Gesellschaft", die auch eine gemeinsame Grundkultur braucht).

Keine Ausbeutung Aber auch eine "höhere" Solidarität, die auf der Liebe zu den anderen um ihrer selbst willen beruht und sich nicht nur um der je eigenen Vorteile willen zusammenschließt (die also auch Opfer auf sich nimmt), erfordert vor allem in ihren tieferen und verbindlichen Formen die Einheit von Gesinnung und Struktur, ist also nur unter Gleichgesinnten möglich. Erst diese Liebe bringt - mit den Worten von Elfi Thiemer - die nötige "Rücksichtnahme auf andere, Verständnis für Schwächere und Andersdenkende und die Bereitschaft, sich einem Ganzen unterzuordnen (besser wäre: einzuordnen)" auf, die für die angestrebte Bürgergesellschaft notwendig sind. Doch diese Nächstenliebe verlangt nicht, sich einfach anderen auszuliefern und sich ausbeuten zu lassen. Das verbietet schon die legitime Selbstliebe. Daher sind die tieferen Formen der personbezogenen Liebe zwar nicht auf, aber nur in Gegenseitigkeit möglich (ohne daß ihre "Leistungen" gegenseitig verrechnet werden). Spenden geben kann man notfalls einseitig (wird aber auch den Mißbrauch zu verhindern suchen), ein Teilen je nach Bedürftigkeit ist nur unter Gleichgesinnten realisierbar (das bedenken auch christliche Hilfswerke oft zu wenig).

Gelebte Praxis Die Motivation zu dieser "Solidarität aus Liebe" kann daher nicht durch Prediger oder einzelne Heilige erfolgen, die leicht als lebensfremde Utopisten angesehen werden, sondern muß durch das anziehende Beispiel von Gruppen, in denen sie praktiziert wird, geschehen. Jesus sagt: Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt. Und die gegenseitige Liebe war das primäre Kennzeichen der frühen Christen (obwohl sie laut heidnischen Zeugen außerdem für die Nichtchristen mehr Gutes getan haben als diese füreinander). Eine solche Gemeinschaft kann am ehesten andere motivieren, sich auf diese Liebe einzulassen. Frei nach Schiller, Die Bürgschaft: Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte (Vierte, Fünfte und so weiter).

Diese tiefere Solidarität setzt auch ein Mindestmaß an Grundvertrauen voraus, das mich die Angst aushalten läßt, dabei zu kurz zu kommen (aus der Daseinsangst um das eigene Leben ist jeder Mensch von Natur aus sich selbst der Nächste). Daher sollte sie gerade in einer Glaubensgemeinschaft gelingen. Das heißt nicht, daß sie nur unter Gläubigen möglich ist. Ein für die Frage nach dem Woher und Wohin des Lebens offener Humanismus, der die Gottesfrage ernst nimmt (auch an ihr leidet) und sich nicht selbst an die Stelle Gottes setzt, sondern ihm einen Vorschuß an Vertrauen gibt, ist schon zu echter Liebe fähig; jedenfalls besser als ein "religiös" verbrämter Egoismus, der sich Gott nach den eigenen Wünschen zurechtlegt und in ihm nur den Garanten der eigenen Weltordnung sieht und sucht.

Diese gegenseitige Liebe kommt auch in kleineren Gruppen keineswegs von selbst zustande. Daher kann sie nicht allein durch strikte Beobachtung des Subsidiaritätsprinzips eingeführt werden, nach dem die kleineren sozialen Einheiten alle Aufgaben erfüllen sollen, die ihnen zukommen und möglich sind. Nichtsdestoweniger muß sie primär in überschaubaren Gruppen (Gemeinden) erfahren, eingeübt und gelebt werden. Nur hier können die Vertrauensbeziehungen aufgebaut werden, die zwischen allen Gliedern einer solchen solidarischen Struktur gegeben sein müssen.

Geistige Grundlagen Solidarität aus und in Liebe bedeutet schließlich nicht gefühlsmäßige Nähe oder Sympathie (auch Geschwister sucht man sich nicht aus und sind einem nicht immer sympathisch), setzt aber eine entsprechende Haltung des Willens (Herzens) bei allen Beteiligten voraus. Daher erfordert sie eine persönliche Entscheidung, die mit der Zugehörigkeit zu einer natürlichen Gesellschaft noch nicht gegeben ist (ebensowenig wie mit einer Säuglingstaufe). Zur Mündigkeit in einer so gestalteten Bürgergesellschaft gehört also nicht nur die Zuerkennung von Rechten, sondern auch die bewußte Annahme ihrer geistigen Grundlagen. Diese Gesellschaft müßte darauf achten, daß ihre heranwachsenden oder von außen dazukommenden Glieder die notwendige Verbindlichkeit bejahen und auf sich nehmen. Eine Volljährigkeitserklärung bloß auf Grund des Alters oder eine Verleihung der (Staats-)Bürgerschaft allein auf Grund von längerem Aufenthalt, von Sprachkenntnissen oder Unbescholtenheit genügen dafür nicht. Das setzt freilich voraus, daß die Gesellschaft selbst weiß, was sie will.

Die Umwandlung der Gesellschaft in eine Bürgergesellschaft im angestrebten Sinn ist also nur in Einheit von Gesinnung und Struktur möglich, verlangt eine Reform beider in einem.

Der Autor ist Dozent für Pastoraltheologie in Innsbruck.

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