"Sich schämen für die Hungersnot"

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Brasiliens Präsident Lula startete das umfassendste Hungerbekämpfungsprogramm der Geschichte. Der Befreiungstheologe Frei Betto ist dabei Berater des Präsidenten. Im Gespräch mit der furche erklärt er Konzept und Wirkweise des Null-Hunger-Programms.

In Brasilien sterben von 1.000 Neugeborenen 32, noch bevor sie das erste Lebensjahr erreichen, das sind über 150.000 im Jahr. Wir alle können am Kampf gegen den Hunger teilnehmen." Mit diesem Aufruf startete der brasilianische Staats- und Regierungschef Luis Inácio da Silva, kurz Lula, einen Kampf, der den Hunger in seinem Land innerhalb seiner vierjährigen Amtszeit ausmerzen will. Der ehemalige Metallarbeiter und Gewerkschafter, Mitbegründer der sozialistischen Arbeiterpartei (PT), weiß, wovon er spricht. Er ist der erste Präsident Brasiliens, der aus dem Elend kommt. Von den zwölf Kindern seiner Mutter sind vier gestorben, noch bevor sie fünf Jahre alt waren.

Nicht nur Brot verteilen

"Lula erinnert sich sehr oft an die Zeiten seiner Kindheit", nennt Frei Betto einen Grund, weshalb der Präsident sich so vehement für die Armutsbekämpfung im Land einsetzt. Der renommierte Befreiungstheologe Betto gehörte schon vor Lulas Wahlsieg im Oktober 2002 zu jenem Expertenteam, das das "Null-Hunger-Programm" ("Fome Zero") ausgearbeitet hat. Heute ist er Sonderberater des Präsidenten und Koordinator der sozialen Mobilisierung für dieses Programm: "Unser Bemühen beim Konzipieren des Null-Hunger-Programms war es, keine Hilfskampagne ins Leben zu rufen. Wir wollten ein Programm öffentlicher Politiken zur sozialen Eingliederung der ausgegrenzten Menschen erstellen", fasst der 60-jährige Dominikanermönch im Gespräch mit der Furche die Philosophie von "Fome Zero" zusammen. Deswegen geht das Programm weit über die finanzielle Unterstützung von Bedürftigen hinaus. Betto: "Es kann nicht genügen, Lebensmittel zu verteilen, denn das allein bringt nichts. Vielmehr müssen wir die 11,4 Millionen Familien, die in Brasilien unter chronischer Unterernährung leiden, von der sozialen Ausgrenzung zur gesellschaftlichen Integration zu führen."

Und so wurde das Null-Hunger-Programm als eine integrale Politik entworfen, die praktisch alle Ministerien der Regierung Lula durchzieht. Das erste Standbei von "Fome Zero" ist das "Familien-Stipendium": Jeden Monat werden 73 Reales (22 Euro) an bedürftige Familien ausbezahlt. Derzeit bekommen fünf Millionen Familien die Unterstützung, bis zum Jahresende sollen es 6,5 Millionen sein, das ist mehr als das selbst gesetzte Plansoll.

Auszahlung nur an Frauen

Für Kinder im schulpflichtigen Alter, für Personen über 65, für geistig Behinderte gibt es Zuschläge. Das Geld wird über die Bank oder das Postamt ausschließlich an die weiblichen Familienoberhäupter ausbezahlt. "Wenn sich jemand darüber wundert, so bräuchte er nur die Frauen zu fragen - die wissen, warum wir das Geld nicht den Männern geben", bemerkt Frei Betto. Man hat auch bewusst verzichtet, die Hilfe über lokale Behörden zu kanalisieren. Die Unterstützung ist jedoch an drei Bedingungen gebunden: Schulbesuch der Kinder, Teilnahme an einem Gesundheitsprogramm (Untersuchungen, Impfungen usw.) und an einer Alphabetisierungskampagne.

Hier beginnt das zweite Standbein der Kampagne: die Strukturpolitik. Frei Betto: "Wir haben, mit Beteiligung der Zivilgesellschaft, eine ganze Reihe von Politiken ausgearbeitet, um Bedingungen zu schaffen, dass die vom Null-Hunger-Programm begünstigten Familien selbst ein Einkommen erwirtschaften und sich sozial in die Gesellschaft integrieren können.

Papst: "Strukturelle Sünde"

"Die wichtigste Bedingung für eine erfolgreiche Strukturpolitik ist aber die Agrarreform", sagt Betto. Die ungerechte Landverteilung ist in den meisten Entwicklungsländern das größte Hindernis für die Armutsbekämpfung. Der Vatikan sprach schon vor Jahren im Dokument "Für eine bessere Landverteilung" von einer "strukturellen Sünde", von einer "ethisch unakzeptablen Situation". Das Original dieses Dokumentes ist in Portugiesisch abgefasst - Brasilien lieferte nämlich mit seinen Problemfeldern Landflucht, Ausbeutung der Landarbeiter, ökologischer Raubbau, Landkonzentration usw. das traurige Anschauungsmaterial für diese Analyse.

Auch in Brasilien hat das kapitalistische Entwicklungsmodell die Konzentration des Eigentums an Land verstärkt. Neben der traditionellen Landoligarchie haben in den letzten Jahrzehnten auch Industrie, Handel und Finanzkapital aus Spekulationsgründen in den Landkauf investiert. Seit 20 Jahren kämpft die Landlosenbewegung (MST, Movimento Sem Terra) für eine Agrarreform, doch erst unter Lula wurde diese ernsthaft in Angriff genommen.

Welternährungstag, 16. Oktober

Durchschnittlich sterben jede Minute rund 1.600 Menschen an Hunger und Unterernährung. Das Recht sich zu ernähren - das grundlegendste Menschenrecht - hat somit für mehr als 840 Millionen Menschen pro Jahr keine Geltung. Hunger fordert mehr Todesopfer wie Krankheiten, Verkehrs- oder Arbeitsunfälle, Kriege und Terrorismus. Trotzdem ist das Engagement gegen den Hunger auf der Welt gering. Warum? "Hunger ist die Todesursache, die einen Unterschied zwischen den sozialen Schichten macht", sagt Befreiungstheologe Frei Betto.

Wichtige Organisationen, die sich gegen den Hunger auf der Welt einsetzen, sind:

FAO, eine Sonderorganisation der UNO für Ernährung und Landwirtschaft (www.fao.org);

FIAN, eine Menschenrechtsorganisation mit einem Netzwerk in 60 Staaten; Veranstaltungen zum Welternährungstag in Österreich finden Sie unter: www.fian.at

Bei der Geschwindigkeit der Umsetzung der Reform klaffen die Vorstellungen von Regierung und MST allerdings auseinander. Bis Ende 2006, dem Ende der Amtszeit von Lula, sollen 530.000 Familien in den Genuss der Landreform kommen - die MST hatte jedoch eine Million gefordert. João Pedro Stedile vom Führungsgremium der MST sieht jedoch ein, dass Lula die Wahlen, nicht aber die ganze Macht gewinnen konnte. Die MST fährt deswegen auch mit ihren Landbesetzungen und Protestaktionen fort.

Neben dem Null-Hunger-Programm wurde heuer mit einem "Null-Durst-Programm" begonnen. Dieses sieht die Anlage von einer Million Zisternen in den Trockengebieten des Landes vor. "Man muss sich vor Augen halten, dass wir noch nicht einmal zwei Jahre an der Regierung sind. Wir können also nicht alle Erwartungen erfüllen. Wir haben auch unsere Fehler, wir befinden uns in einem Lernprozess", gibt Frei Betto zu bedenken. Und er zitiert Lula: "Das erste Diplom in meinem Leben war das Präsidenten-Diplom. Und dieses Diplom erhält man, bevor man den Kurs macht. Nun beginne ich erst mit dem Kurs. Das ist etwas, was man in der Praxis lernt und nicht in der Theorie."

Frei Betto: "Wir sind überzeugt, dass der Hunger das größte Problem und eine soziale Schande ist. Und diese Schande kann nur dann beendet werden, wenn es gelingt, das soziale Problem in eine politische Angelegenheit zu verwandeln. So ist es mit der Sklaverei passiert, die als normal und legal betrachtet und von der Kirche unterstützt wurde. Oder auch mit der Folter, die man lange als legales Instrument des Verhörs angesehen hat. Wir müssen den Hunger und die Armut als eine schwere Verletzung der Menschenrechte betrachten und das in eine politische Angelegenheit umwandeln. Wenn wir es eines Tages in unserer Kultur schaffen, Schande zu empfinden, dass es Armut gibt, so wie wir angesichts der Sklaverei oder der Folter Scham empfinden, dann sind wir in unserem zivilisatorischen Prozess ein gutes Stück weitergekommen."

Der Autor ist Redakteur von "Südwind" und "Lateinamerika anders".

Frei Betto besuchte letzte Woche auf Einladung der Südwind Agentur Wien und nahm an den Veranstaltungen zum 25-jährigen "Südwind"-Bestehen teil.

www.fomezero.gov.br; www.mobilizacao.org.br

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