Opferrolle abstreifen
Biologen, Hirnforscher und Psychologen melden Zweifel am absoluten Kindheitsglauben an.
Biologen, Hirnforscher und Psychologen melden Zweifel am absoluten Kindheitsglauben an.
Vor hundert Jahren formulierte Sigmund Freud seine Trauma-Theorie. Sie besagt: Frühe traumatische Erfahrungen werden vom Kind verdrängt, weil es die damit verbundenen Konflikte und Ängste nicht aushält, und sie üben so lange eine unheilvolle Wirkung aus, wie der Erwachsene sie nicht wiedererinnert und durchgearbeitet hat.
Das "Wörterbuch für Psychologie" definiert ein psychisches Trauma als eine "die gesamte Persönlichkeit erfassende psychische Erschütterung, die durch belastende Umwelteinflüsse verursacht wird". Unter einem psychischen Trauma leiden Unfall-, Kriegs-, KZ-Opfer. Heute sind immer mehr Menschen, die nicht Opfer von Verfolgungen waren, überzeugt, an den Nachwirkungen eines schweren Traumas zu leiden. Für ihre Störungen machen sie die Verletzungen verantwortlich, die ihrer kindlichen Seele zugefügt wurden.
Mit Hilfe von Psychotherapeuten steigen sie in die dunklen Kammern der Kindheit hinab. Dieser aus den USA kommende Trend hat auch Europa erfaßt: in Einzeltherapien, Volkshochschulkursen, Seminaren und durch die Lektüre von Lebenshilfe-Büchern wenden sich große Teile der Bevölkerung der eigenen Kindheit zu.
Die deutsche Diplom-Psychologin und stellvertretende Chefredakteurin der angesehenen Fachzeitschrift "Psychologie heute", Ursula Nuber, hat in einem soeben erschienenen Buch die neuesten Erkenntnisse jener Forscher erfaßt, die Zweifel an der Sinnhaftigkeit solchen Tuns anmelden. Diese Zweifler kommen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Ihre Forschungsergebnisse, präzis und ohne Schaum vor dem Mund präsentiert, enthalten beträchtliche Sprengkraft. "Die menschliche Entwicklung ist sehr viel komplizierter, aber auch chancenreicher, als es uns all jene glauben machen wollen, die vom Glauben an die frühen Traumen und ihrer angeblich so enormen Wirkung profitieren.
Traum-Theorie contra Hirnforschung Das neue Bild der Kindheit ist geeignet, viele Menschen aus der Opferrolle zu befreien und sie zu befähigen, ihr Leben selbst zu gestalten." Der Psychoboom, so Ursula Nuber, der in den siebziger Jahren einsetzte, hat zu einer breitflächigen Psychologisierung der Gesellschaft geführt.
Heute redet Mann und Frau vollmundig von Ich und Es, Überich, Penisneid, Phallussymbol. Filme tun das Ihre zur Verbreitung des Glaubens an die Macht der Kindheit. Die Medien verabsäumen es nicht, kriminelle Taten in einen Zusammenhang mit den Kindheitserfahrungen zu bringen. Die Autorin fragt: "Ist es wirklich so einfach? Kann ein erwachsener Mensch, der geistig zurechnungsfähig ist, wirklich völlig von der Selbstverantwortung freigesprochen werden?"
Wer sind nun die Zweifler am absoluten Kindheitsglauben? Biologen, Neurowissenschaftler, Gedächtnisforscher und Entwicklungspsychologen. So zeigen Langzeitstudien, daß Entwicklung ein Leben lang möglich ist. Kinder, die in schwer gestörten Familien aufwachsen, werden oft gestützt von Großeltern, Geschwistern, Lehrern, Geistlichen.
Der Blick einzig nur auf die Verwundungen beachtet zu wenig die positiven Seiten auch einer schrecklichen Kindheit. Politisch nicht korrekt, aber nachweisbar, ist die biologische Ausstattung eines Menschen: "Erbfaktoren, die Gene eines Menschen sowie sein angeborenes Temperament, können den Verlauf einer individuellen Entwicklung mindestens in gleichem Maße beeinflussen wie Umweltfaktoren."
Wenn es also heißt: Geschlagene Kinder schlagen wieder ihre eigenen Kinder, könnte die Ursache auch biologisch sein: "Dann hat der Vater seinem Sohn möglicherweise die Neigung zur Aggression vererbt."
Ein schweres Geschütz gegen die Trauma-Theorie fahren Hirnforscher auf. Zahlreiche Untersuchungen haben ergeben, daß unser Gedächtnis alles andere als ein Fotoapparat ist. Erinnerungen verändern sich im Rückblick. Das heißt: Suggestiv-Fragen des Psychotherapeuten können Antworten erzeugen, die von ihm beeinflußt sind. Um diese Gefahr wußte schon Freud.
Die Befreiung aus der Opferrolle Was ist das Fazit? Psychotherapeuten haben laut Ursula Nuber allen Grund, um ihre berufliche Existenz zu bangen, wenn ihre Therapie-Formen öffentlich auf den Prüfstand kommen. Menschen, die schweres seelisches Leid mit sich herumschleppen, sollten wissen, daß der Blick aufs eigene Leben, jahrelang durchgehalten und mit hohen Kosten verbunden, oft keine Lösung bringt, wenn die Lebensgeschichte nur als Problemgeschichte gesehen wird; daß die reinigende Wirkung von wiedererinnerten Gefühlen bislang nicht erwiesen ist; daß Schuldzuweisungen letztlich niemandem helfen; daß Ratgeber in Form von populärwissenschaftlichen Büchern statt empirischer Belege häufig nur Fallbeispiele anführen.
In einer unüberschaubaren, komplizierten Zeit fühlen sich viele Menschen als Opfer, daher das Verlangen, in die Opferrolle zu schlüpfen.
Doch die Konzentration auf das individuelle Schicksal verstellt auch den Blick auf die politische Dimension und trägt zu unpolitischem Denken bei. Wer Schuld nur bei den Eltern sucht, sieht nicht, daß diese ja auch in sozialen Verhältnissen lebten, die sie vielleicht überforderten.
Das Loslassen der Vergangenheit muß nicht als "Verdrängen" diffamiert werden. Eine äußere und innere Distanz zu belastenden Geschehen herzustellen, kann sehr befreiend sein.
Ursula Nuber läßt Fachleute zu Wort kommen, die durchaus nicht der Verheimlichung von Kindesmißbrauch das Wort reden, die sich aber an mündige Bürger wenden: "Wir vertrauen allzu gerne auf einen Papa, einen Guru, einen Führer, der alles regelt." Zweifel an Autoritäten ist angesagt. Ein Buch, über das man nicht hinweggehen sollte.
DER MYTHOS VOM FRÜHEN TRAUMA Über Macht und Einfluß der Kindheit.
Von Ursula Nuber. Fischer TB, Frankfurt 1999. 238 Seiten, öS 167,-/e 12,14
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