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Sprache muss man in ihren verschiedenen Funktionen verstehen. Einerseits erschließt sie uns die Welt über ihre je eigenen Begriffe. Das begriffliche Universum einer Sprache ist ein Versuch, die unüberschaubare Komplexität der Erscheinungen der Welt zu reduzieren, sodass wir Menschen sie erfassen können -und das passiert über das Kategorisieren und Benennen.

Die zweite Funktion ist die des Kommunizierens. Einerseits dient uns Sprache selbst zum Kommunizieren, andererseits erlernen wir sie über das Kommunizieren. Wie schwierig es für ein blindes und gehörloses Kind ist, nicht nur Sprache zu erlernen, sondern überhaupt eine Vorstellung von Begriffen zu entwickeln, zeigt sich am Beispiel der 1885 geborenen Marie Heurtin, deren Leben in "Die Sprache des Herzens" verfilmt wurde. Begriffe existieren also nicht naturgegeben im Kopf, sondern sie sind kulturelle Produkte, die mit komplexen Mengenlagen an Gefühlen versehen sind. Was wir wahrnehmen und was nicht, was wichtig und was unwichtig ist, legen uns die Menschen nahe, mit oder von denen wir Sprachen lernen.

Vorteil oder Makel der Mehrsprachigkeit

Damit sind wir bei der dritten Dimension, dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Sprachgruppen. Dies kann mit der Kategorie einer kulturellen Gruppe identisch sein. Es können aber auch andere politisch-ideologische, religiöse oder milieubedingte Zugehörigkeiten noch sehr viel stärker wirken. Welche Differenzlinien hervorgehoben werden -und ob Mehrsprachigkeit als Vorteil oder Makel verstanden wird - hängt von den gesellschaftlichen Diskursen ab und kann sich relativ rasch ändern.

Sprache vermittelt also Kultur. Doch kulturelle Bedeutungen sind weder unveränderbar noch begrenzt auf statische Gruppen, sie sind keine homogenen Entitäten. Wir wissen von der Leitkulturdebatte in Österreich, dass sofort die milieubedingten Unterschiede sichtbar werden und wir uns nicht auf Schnitzel, Trachten und die Wiener Philharmoniker einigen können. Wenn man die Überschneidungsmenge zwischen einem Tiroler Bergbauern, für den das Patriarchat nie in Frage gestellt wurde, mit einer feministischen Akademikerin aus Wien sucht, wird man nicht sehr viel finden. Die Forschung zeigt acht etwa gleich große, voneinander abgrenzbare Milieus. Das heißt nicht, dass Menschen darüber nachdenken, zu welchem Milieu sie gehören, sie merken nur: "Da fühl ich mich wohl, da kenn ich mich aus, da hab ich eine Chance, dazuzugehören", wenn sie auf neue Menschen aus demselben Milieu treffen. Wir wissen aus der Forschung zu kollektiven Identitäten, dass diese Vorstellung der Zugehörigkeit entscheidend ist: Neue Mitglieder brauchen bestimmte Angebote und Verhaltensweisen von ihrer neuen Umgebung, um ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln -und Alteingesessene haben einen immensen Vorteil, aus dem heraus sie die Prozesse der Annäherung erleichtern können. Weil jeder und jede diese Prozesse mitgestaltet, sind Gegenseitigkeit und interkulturelle Kompetenz auf beiden Seiten gefragt.

Deutsch im Pausenhof?

Für die Schule bedeutet das, dass Kinder die Unterrichtssprache so bald als möglich lernen sollten und dass sich ihre Chancen in der Gesellschaft wesentlich erhöhen, je besser sie diese beherrschen. Klar ist auch, dass das Erlernen mehrerer Sprachen mehr Vor-als Nachteile hat. Gerade die Lebensverlaufsforschung konnte das bei nun über 70-jährigen Menschen zeigen. Die ungeklärte Frage ist aber, wie das Sprachenlernen in der Bildungslaufbahn am besten organisiert wird und wie wir das Potenzial der Mehrsprachigkeit am besten für Individuum und Gesellschaft nutzbar machen.

Und da sind wir mitten in der Debatte um Deutsch am Pausenhof, Deutschförderklassen und Deutschkenntnisse als Erfordernis für den Zugang zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, etwa der Mindestsicherung. Nehmen diese Maßnahmen und ihre konkrete Organisation Rücksicht darauf, dass Lernen kein mechanischer Prozess, sondern von vielen Faktoren abhängig ist? Und dass Sprachenlernen mehrere Dimensionen hat und über die gesamte Bildungslaufbahn stattfindet? Stellen sie die bestmögliche Kombination von fachdidaktischen Erkenntnissen und Lernpsychologie sowie der Stärkung der Zugehörigkeitsgefühle zur gemeinsamen Klasse und Schule dar? Befördern sie die Anerkennung, Wertschätzung und Nutzbarmachung aller den Kindern verfügbaren Sprachen? Fördern sie die Bereitschaft der Lehrkräfte aller Fächer, ihre Fähigkeiten im sprachbewussten Fachunterricht auszubauen? Nehmen sie die Evaluationsergebnisse ähnlicher, aber eventuell besserer Vorgangsweisen auf? Bestand Interesse, von den seit 2016 in Österreichs Schulen bereits implementierten Maßnahmen zu lernen? Oder geht es lediglich um eine Botschaft an die Wähler, dass diese Regierung etwas Neues, angeblich Besseres macht -auch wenn es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass dies langfristig zu besseren Deutschkenntnissen der Schüler führen wird?

Aus meiner Sicht ist die Antwort klar. Oft werden auch Beispiele herangezogen, die es schlicht nicht gibt. Weder in Kanada noch in den USA sind etwa Strafmaßnahmen vorgesehen, wenn man nicht Englisch lernt. Ebenso sind mir in Kanada keine Schulklassen bekannt, in denen absichtlich nur Schülerinnen und Schüler, welche die Unterrichtssprache noch nicht beherrschen, ein Semester, ein Schuljahr oder gar länger zusammengefasst werden -ein Modell, das in den USA sehr viel Kritik geerntet hat. Vielmehr erhöhen in Kanada gute Englischoder Französischkenntnisse der Erwachsenen die Wahrscheinlichkeit, die notwendige Punktezahl zu erreichen, um einwandern zu dürfen und nach drei Jahren ununterbrochenen Aufenthalts die Staatsbürgerschaft erwerben zu können.

Lernen vom Beispiel Kanada

Natürlich: In Kanada haben weniger eingewanderte Familien niedrige Bildungsabschlüsse als in Österreich (auch wenn hierzulande die Hälfte der eingewanderten Mütter von Schulkindern einen der Matura vergleichbaren Abschluss aufweisen). Während Österreich ab Anfang der 1960er-Jahre vor allem möglichst anspruchslose "Fremdarbeiter" angeworben hat, fing Kanada an, die Einwanderung mit einem Punktesystem zu steuern: Bildungserfolgreiche Personen - viele aus dem asiatischen Raum -hatten dadurch höhere Chancen. Das bedeutet aber nicht, dass in Kanada die Schulkinder zu Hause Englisch oder Französisch sprechen. Ziemlich genau 50 Prozent der Schüler mit eingewanderten Eltern gaben bei der kanadischen PISA-Testung 2015 an, zu Hause eine Familiensprache zu sprechen, die sich von der Unterrichtssprache unterscheidet.

Richtig ist jedenfalls, dass eine liberale Glaubens-und Gesellschaftsauffassung in allen Milieus und Subgruppen -seien es Einheimische oder Eingewanderte -die Integration fördert und die Möglichkeit, in einer gemeinsamen Sprache zu kommunizieren, alles erleichtert. Die kanadische Zivilgesellschaft und der Mainstream ihrer Politiker wissen, dass eine Kultur des "Willkommenheißens" und nicht des "Jetzt-beweis-mirerst-mal" zu den notwendigen Bestandteilen einer erfolgreichen Integrationspolitik gehört. Meine persönliche Erfahrung ist, dass sich die meisten Zugewanderten auch in Österreich über ein entgegenkommendes Verhalten freuen und mit einer Gegeneinladung reagieren. Es stimmt, dass das nicht alle tun und dass ich auch nicht mit allen einen Abend verbringen muss. Aber das ist bei den Einheimischen nicht anders.

| Die Autorin ist Professorin am Institut für Lehrerinnenbildung und Schulforschung der Universität Innsbruck |

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