Fachkräftemangel und Sinnkrise: Die große Resignation
Trotz zuletzt gesunkener Arbeitslosenquote bleibt die Zahl offener Arbeitsstellen hoch. Fachkräfte fordern neue Arbeitszeitmodelle und mehr Lohn. Über die ideologische Krise der Erwerbstätigkeit.
Trotz zuletzt gesunkener Arbeitslosenquote bleibt die Zahl offener Arbeitsstellen hoch. Fachkräfte fordern neue Arbeitszeitmodelle und mehr Lohn. Über die ideologische Krise der Erwerbstätigkeit.
In Herman Melvilles Erzählung „Bartleby, der Schreiber“ aus dem Jahr 1853 wird die Geschichte eines jungen Bürolehrlings erzählt, der in einer Anwaltskanzlei an der Wall Street Akten kopiert. Bartleby, wie der titelgebende Protagonist heißt, erledigt seine Arbeit zunächst sehr gewissenhaft, er kopiert Tag und Nacht und fällt durch besonderen Fleiß auf. Als ihn am dritten Tag sein vorgesetzter Anwalt zur Hilfe ruft, antwortet Bartleby mit fester Stimme: „Ich möchte lieber nicht.“ Mehrfach verlangt der Anwalt von seinem Angestellten Unterstützung bei der Kollationierung von Texten, doch immer wieder rennt er gegen dieselbe Betonmauer der Verweigerung. Und bekommt als Antwort: „Ich möchte lieber nicht.“
Bartleby sagt das nicht frech, sondern höflich und bestimmt, und gerade das bringt den Chef aus der Fassung. Was soll er tun? Seinen Gehilfen rauswerfen? Ausgerechnet ihn, „dieses bleiche Unschuldsgebilde“, der im Gegensatz zu anderen Lehrlingen keine Tintenkleckse hinterlässt oder Streusand verschüttet? Selbst Bestechungsgeld nimmt er nicht an. Am Ende landet Bartleby im Gefängnis und stirbt. Sein rätselhaftes Verhalten nimmt er mit ins Grab.
Ein Leben in Freiheit
Die Erzählung, die in Teilen an Franz Kafka erinnert, wurde oft als Anleitung zum zivilen Ungehorsam gelesen, als Satire auf die Büro- und Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts. Doch in der Geschichte steckt noch viel mehr als die Bockigkeit eines Bürolehrlings: die Ablehnung von Arbeit, die Affirmation von Freiheit und Selbstbestimmung, die das Direktionsrecht des Arbeitgebers ad absurdum führt. Sujets also, die als sehr aktuell gelten können.
In den USA haben im vergangenen Jahr über 40 Millionen Menschen ihre Jobs aufgegeben, jeder Fünfte plant es dieses Jahr zu tun. Diese Menschen haben keine Lust mehr, als Krankenpfleger Nachtschichten zu schieben und ihre Kinder zu vernachlässigen oder für einen Hungerlohn saturierten Boomern das Schnitzel in der Gastronomie zu servieren. Sie sagen sich angesichts der miesen Bezahlung und Arbeitszeiten: Ich möchte lieber nicht.
Diese sogenannten „quitters“ suchen sich andere Jobs oder hören gleich ganz auf zu arbeiten, weil die Eltern ein Haus besitzen. Auf Tiktok ging vor einiger Zeit ein Videoclip viral, auf dem ein gelber Zettel zu sehen ist, der die Kundschaft eines Drive-ins von McDonald’s über den Personalmangel informiert: „Seien Sie bitte geduldig mit der angetretenen Belegschaft. Niemand will mehr arbeiten.“
Die „Great Resignation“, wie der massenhafte Exodus von Angestellten auf dem Arbeitsmarkt genannt wird, hat ihre Ursache nicht allein in mieser Bezahlung oder schlechter Work-LifeBalance, sondern in einer sozialpsychologisch tiefer wurzelnden Sinnkrise. Die Pandemie war für viele Menschen ein Auslöser, sich und ihre Arbeit zu hinterfragen. Warum verbringt man jeden Tag wertvolle Lebenszeit im Stau oder in vollen Zügen, um dann Dinge zu tun, die einem nicht gefallen? Warum jeden Morgen früh aufstehen, wenn am Monatsende kaum noch etwas übrigbleibt? Warum eine teure Stadtwohnung mieten, wo man als digitaler Nomade von überall auf der Welt arbeiten kann?
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