Jede Flucht geht einmal zu Ende - auch die eigene, mich an dieser Stelle an die jüngsten medizin- und bio ethischen Entwicklungen heranzuwagen. Ich versuche es ohne Kompetenz, aber aus Sorge und Alarmiertheit.
Mein Eindruck: Unter hohem Tempo und in enormer Vielgestaltigkeit stehen jetzt Grundfragen des Menschseins zur Disposition. Es geht um die Aufweichung des Lebensschutzes am Beginn und am Ende des Lebens; um die Auflösung bewährter Familienstrukturen - und um bizarre Perspektiven künftiger Vater-Mutter-Kind-Beziehungen (Ei-und Samenspenden, Leihmutterschaft ).
Kurzum: Es geht um Manipulation und Selektion dessen, was bisher selbstverständlich war.
Die Schlagworte sind bekannt, verhüllen aber mehr als sie aussagen: "In-vitro-Fertilisation", "Gen-Diagnostik", "Fortpflanzungsmedizin", "Suizidbeihilfe" usw. Die Politik hat dazu schmückende Beiwörter gefunden: "Entkriminalisierung", "Liberalisierung", "Selbstbestimmung" Sie behübschen alle ungeklärten Risiken medizinischer und moralischer Art.
Ich frage mich: Woher kommt dieser massive Druck, Kernfragen zu den Rändern des Lebens, aber auch der Kinderrechte auf eine klare Elternschaft, jetzt so grundlegend zur Disposition zu stellen? Wer hat Interesse daran? Wer entscheidet heute über das ethisch Richtige -und welche politischen Absichten werden dabei mitbedacht, vielleicht auch abgetauscht? Wieso wird -wie zuletzt -so einschneidenden Gesetzen - gegen alle Proteste -nur eine Begutachtung von zwei Wochen eingeräumt? Wie weit betrifft das, was an den Lebensrändern geschieht, auch die Mitte des Lebens?
"Machsal" statt "Schicksal"?
Und: Sind es die medizintechnischen Fortschritte, die einen angepassten Ethik-Bedarf schaffen und individuelle Ansprüche wecken ("Rechte auf ein eigenes Kind","auf gesunden, perfekten Nachwuchs","auf ein sanftes Sterben" )? Oder durchleben wir eine Zeit, in der Begriffe wie "Schicksal" zurücktreten und durch "Machsal" ersetzt werden?
Wer hätte gedacht, dass das Tabu der aktiven Sterbehilfe noch je ins Wanken geraten könnte? In welche Bedrängnis würden massiv pflegebedürftige Men schen geraten, um ihr Dasein angesichts eines unterstützten "Suizids auf Verlangen" zu rechtfertigen? Und welchen Anwalt haben Ungeborene, die beim pränatalen "Screening" den Kriterien nicht entsprechen?
Persönlich glaube ich (so wie der Philosoph Robert Spaemann), dass das Dilemma begann, als die Begriffe "Mensch" und "Person"(also mit Ich-Bewusstsein) nicht mehr deckungsgleich gehalten wurden. Damit sind all die Fragen akut geworden: Ist ein Fötus schon Person? Ist es ein Schwerstkranker noch? Solche Türen, einmal geöffnet, sind kaum wieder zuzubringen.
Bleibt nur die Hoffnung, dass sich das ethisch Richtige doch als das medizinisch Nützliche und sozial Verträgliche erweisen könnte. Aber daran wäre zu arbeiten.
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