Die Briten werden fehlen
Das derzeitige Brexit-Chaos sollte EU-Europa nicht dazu verführen, sich moralisch überlegen zu wähnen und die eigenen Probleme und Fehlentwicklungen zu negieren.
Das derzeitige Brexit-Chaos sollte EU-Europa nicht dazu verführen, sich moralisch überlegen zu wähnen und die eigenen Probleme und Fehlentwicklungen zu negieren.
Man weiß nicht, ob man Theresa May mehr bemitleiden oder bewundern soll. Dass sie etwas von einer eisernen Lady an sich hat, ist unbestreitbar. Die Zähigkeit und Unerschütterlichkeit, mit der sie für ihren Brexit-Deal kämpft, ringen jedenfalls Respekt ab. Man würde ihr wünschen, dass sie diese in Post-Brexit-Zeiten, wenn der ganze Spuk vorbei ist, im Sinne liberalkonservativer Programmatik zum Wohle des Landes einzusetzen in der Lage ist. So könnte sie noch eine bedeutende Premierministerin werden. Ob sie bis dahin politisch überlebt, ist indes ungewiss.
Wer Mays jetziges Agieren in der Brexit-Causa kritisiert, muss sich freilich nach den Alternativen fragen lassen: Boris Johnson? Eher nicht. Jeremy Corbyn? Weiß auch nicht, was er wollen soll (und seine Labour Party ist nicht minder gespalten). Wie man überhaupt zunehmend den Eindruck gewinnt, mit Ausnahme Mays wüssten alle nur, was sie nicht wollen - Mays Deal sei "tot", ihre Zeit "abgelaufen", sagt etwa Corbyn -aber nicht, wofür sie eigentlich sind. Das ist es, was die Sache so schwierig, ja, mittlerweile schier unlösbar erscheinen lässt.
British spirit
Bei all dem muss man immer dazu sagen, dass jede derzeit noch möglich scheinende Lösung bestenfalls die zweitbeste sein kann. Die beste nämlich wäre ein Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union: und zwar für beide Seiten. Der EU kommt mit den Briten nicht nur die militärische Kapazität und ein transatlantischer Brückenkopf abhanden, sondern auch eine Stimme der (ökonomisch liberalen) Vernunft und generell des europapolitischen Pragmatismus. Wenn es stimmt, dass die Europäische Union heute vor allem an moralistischer Überdehnung, ökonomischer Fahrlässigkeit und geistig-kultureller Indifferenz krankt, dann wäre british spirit zumindest für die ersten beiden Punkte ein geeignetes, wichtiges Remedium.
Zu befürchten steht indes, dass sich angesichts der tatsächlichen deplorablen britischen performance in Sachen Brexit die EU-Eliten als die moralischen Sieger wähnen und darob ihren Anteil an der Anti-EU-Stimmung jenseits des Ärmelkanals übersehen. Dass es diese auch diesseits des Kanals gibt, dürfte sich im Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament Ende Mai manifestieren. Immer weniger wird sich die Fiktion einer Unterteilung in "gute" oder Pro-und "schlechte" oder Anti-Europäer aufrechterhalten lassen.
"Ungenießbare Moral-Couverture"
NZZ-Chefredakteur Eric Gujer hat kürzlich in einem (fast möchte man sagen von britischer coolness gekennzeichneten ) Leitartikel gezeigt, dass gerade Merkels Deutschland -also der Prototyp des "guten", multilateral agierenden Proeuropäers - ganz gezielt seine nationalen Interessen verfolgt, von der Sicherheits- über die Energie-bis zur Migrationspolitik. Und er schreibt: "Obwohl das Land in der Mitte des Kontinents dazu neigt, politische Fragen mit ungenießbarer Moral-Couverture zu überziehen, sollten die übrigen Europäer sich hüten, es den Deutschen gleichzutun und ebenfalls zu moralisieren."
Weniger Moralismus, mehr Pragmatismus, eine Konzentration auf einige wenige Aufgaben, wo supranationale Zusammenarbeit sinnvoll und notwendig ist (Binnenmarkt, äußere Sicherheit), ganz im Sinne des viel beschworenen Subsidiaritätsprinzips -das könnte der Europäischen Union langfristig das Überleben sichern und verhindern, dass ihre tatsächlichen Feinde die Überhand gewinnen. Wenn gerade die Brexit-Verwerfungen zu einer Besinnung solcher Art führten, hätten sie sogar noch ihr Gutes gehabt. Man darf ja noch hoffen.
rudolf.mitloehner@furche.at
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